1.7.21

Das Problem mit der Übersetzung (Fragen zur Identitätspolitik)

Vielleicht haben Sie es schon den Medien entnommen, in den Niederlanden gibt es einen Skandal, weil ein Buch der schwarzen US-Dichterin Amanda Gorman von der weißen Niederländerin Luca Rijneveld übersetzt werden sollte. Dies kritisierte die schwarze Niederländerin Janice Deul, die meinte eigentlich sollte eine schwarze Niederländerin das Buch übersetzen, woraufhin Rijneveld den Übersetzungsauftrag an den Verlag zurückgab. Den Rest mit Selbstkritik und Bekenntnis zu mangelnder Sensibilität lasse ich mal weg, weil das sind individuelle Probleme.
Die Frage ist doch, wird die Übersetzung besser, wenn sie von einer schwarzen Frau stammt als von einer weißen Frau? Ja würden Aktivist*innen sagen, weil die schwarze Frau vergleichbare Unterdrückungserfahrungen hat wie die Autorin. Als ob eine weiße Frau in dieser Männerwelt keine Unterdrückungserfahrungen erleben würde.
Richtig ist, dass neben Geschlecht auch die Hautfarbe zu unterschiedlichen Unterdrückungserfahrungen führen kann. (Ich sage an dieser Stelle bewusst "kann", weil ich vor kurzen eine Fernseh-Doku über Malcolm X gesehen habe und darin seine Erfahrungen mit der Pilgerfahrt nach Mekka thematisiert wurde und wie X erstaunt darüber war, dass unter den Moslems, die er auf der Reise durch Nordafrika und Arabien traf Hautfarbe überhaupt kein Thema war, der gemeinsame Glaube war viel stärker als die Herkunft.) Was an dieser Stelle übersehen wird, ist dass die Persönlichkeit eines Menschen nicht nur von Geschlecht und Hautfarbe bestimmt wird, sondern auch von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen, in den er/sie/es aufwächst. Insofern stellt sich die Frage, ob eine Niederländerin überhaupt in der Lage ist, die komplexen sozialen Erfahrungen einer US-Amerikanerin (die Frage, in welchem Bundesstaat die US-Amerikanerin aufgewachsen ist, Nord- oder Südstaat, Ost- oder Westküste oder Mittlerer Westen, lasse ich mal außen vor, mensch könnte das noch z.B. nach Stadtteilen in New York differenzieren.) nachzuvollziehen und die Texte adäquat zu übersetzen.
Wobei wir die Frage nach den Inhalten der Texte und dem Ziel der Übersetzung noch gar nicht gestellt haben. Ist es Ziel der Übersetzung, die Texte wortgetreu in eine andere Sprache zu übertragen oder ist es das Ziel, die in den Texten gefangenen Erfahrungen der Autorin den Leser*innen in einer anderen Kultur nahe zu bringen? (Ich erinnere mich an eine Diskussion vor vielen Jahre bezüglich der Übersetzung von "Lemprière's Wörterbuch" von Lawrence Norfolk, weil der Übersetzer Hanswilhelm Haefs Kapitelüberschriften im Stile deutscher Bildungsromane des 18. Jahrhunderts eingefügt hatte, die im englischen Original nicht vorhanden waren, weil die englischen Bildungsromane jener Zeit, deren Form Norfolk übernommen hatte, so was nicht kannten.) Eine wortgetreue Übertragung kann schon daran scheitern, weil einzelne Worte in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Assoziationen erzeugen. (Ist z.B. "Autobahn" eine adäquaten Übersetzung für "Highway"? Auch das Wort "Fernstraße" erweckt andere Vorstellungen bei den Leser*innen als "Highway".) Und findet sich das Thema Hautfarbe überhaupt in den Texten der US-Autorin wieder, braucht es eine entsprechende Sensibilität bei der Übersetzung in eine andere Sprache?
Schließlich ist da noch die Frage der literarischen Qualität: Eine Übersetzerin kann noch so viele Erfahrungen mit der Autorin teilen, aber was ist ihre literarische Qualifikation? (Ist sie besser als Babelfish?) Es gibt zahlreiche klassische englische Werke der Literatur, die mehrfach und zu unterschiedlichen Zeiten ins Deutsche übersetzt wurden wie z.B. "Das Bildnis des Dorian Gray" oder die Sherlock Holmes-Geschichten, und wer einmal 2 verschiedene Übersetzungen nebeneinander legt wird schnell die Unterschiede beim Satzbau und der Wortwahl entdecken, die natürlich Einfluss auf das Leseerlebnis haben. Sollte eine Übersetzung modernisiert werden (und ich diskutiere jetzt nicht die Frage "Negerkönig" ja oder nein), den Stil an den heutigen Geschmack anpassen oder vertraut man darauf, dass die Leser*innen diese Transferleistung selbst erbringen können? (Auch eine Frage, die sich bei vielen Theater- und Operninszenierungen stellt, möglicherweise auch bei der Aufführung klassischer Musik.)
Langer Rede kurzer Sinn: literarische Übersetzungen sind eine komplexe Aufgabe, deren Gelingen von vielen Faktoren abhängt. Wer glaubt, eine Übersetzung wird besser, weil Autor*in und Übersetzer*in die gleiche Hautfarbe haben, argumentiert derart unterkomplex, dass er/sie/es die Übersetzung gleich Babelfish überlassen kann. Sicher wird eine Übersetzung anders, weil Autor*in und Übersetzer*in die gleiche Hautfarbe haben (ob das aber an der Hautfarbe liegt oder allein auf Grund der Tatsache geschuldet ist, dass es sich um 2 verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen handelt), aber ist sie dann besser? Wie oben dargelegt hängt der Erfolg einer Übersetzung von vielen Faktoren ab - und möglicherweise liefert ein schwuler weißer Niederländer, der einige Jahre in den USA verbracht hat, die bessere Übersetzung (unabhängig davon wonach sich dieses "besser" bemisst - so lautet die deutsche Übersetzung von "The hill we climb" "Den Hügel hinauf" unter Versicht auf "wir" und die Aktivität des Erklimmens)?

PS: In diesem Zusammenhang plopt bei mir noch ein ganz anderes Problem auf, weil wir oben vom Wert ähnlicher Erfahrungen bei der Qualität von Übersetzungen gesprochen haben. Gesellschaftliche Erfahrungen unterscheiden sich nicht nur regional, sondern auch zeitlich, weshalb sich bei Übersetzungen älterer Literatur die Frage stellt, ob der/die/das Übersetzer*in in der Lage ist, sich in den damaligen Zeitgeist hineinzuversetzen, um den Text heutigen Leser*innen verständlich zu machen. (Interessanterweise hat dies auch Victor Obiols, der das Gedicht ins Katalanische übersetzt hat, dann aber vom Verlag gecancelt wurde, thematisiert. Er stellt die Frage, ob man unter diesen Umständen überhaupt noch Homer übersetzen könne, wenn man kein Grieche des 8. Jahrhunderts vor Christus sei.) Dieses Problem stellt sich noch gravierender in der Geschichtsforschung (Es gibt zur Zeit die Diskussion, ob die Vorstellung von frühen Gesellschaftsformen, wo die Männer jagten und die Frauen das Feuer hüteten, den damaligen Realitäten entspricht oder nur eine Projektion der Rollenvorstellungen von älteren männerdominierten Forschergenerationen ist.) Wenn also historische Forschung immer an dem Problem scheitert, bei der Bewertung historischer Vorgänge eigene Vorurteile der Forscher*innen auszublenden (wir kennen die Diskussion bei der Bewertung des Verhaltens der Menschen während der Hitler-Diktatur zur Genüge), ist dann Hitlers Mein Kampf möglicherweise das einzige gültige Werk über seine Person, weil kein*e Außenstehende*r identische Erfahrungen gemacht hat und daher nicht in der Lage ist, sich wirklich in die Psyche Hitlers hineinzuversetzen und seine Handlungen zu erklären? (Deshalb war ja damals die Idee des kanadischen UFO-Sekten-Führers Rael, Hitler zu klonen und den Klon vor Gericht zustellen für Hitlers Taten totaler Schwachsinn, weil ein Hitler-Klon, der nicht den ersten Weltkrieg, einen tyrannischen Vater und Armut in Wien durchgemacht hat, ein anderer Mensch geworden wäre, der höchstwahrscheinlich kein Antisemit geworden wäre und keinen Weltkrieg angezettelt hätte.) Jede Biografie - selbst wenn der/die/das Autor*in es schafft, seine/ihre moralischen Wertungen komplett auszublenden - kann nur eine Annäherung an eine Person sein. Und das gilt um so stärker, je größer zeitliche und/oder räumliche Distanz zwischen Historiker*in und Forschungsgegenstand liegen.

PPS: Dieser Text hat etwas zu lange unredigiert auf meinem Desktop gelegen, er klingt vielleicht nicht mehr aktuell, ist es aber noch. Ein ähnliches Problem gab es vor einigen Monaten in Hannover.

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