27.12.23

Bezirksrat Südtstadt-Bult Dezember 2023

Irgendwann zwischendurch verlor ich meinen Kugelschreiber und dann fehlte noch ein Tagesordnungspunkt auf der ausgelegten Liste. Mal sehen, was ich aus meiner Erinnerung zusammenkramen kann.
Zuerst wurde ein neues Bezirksratsmitglied von der PARTEI vereidigt, nachdem die bisherige Vertreterin das Amt aus Zeitgründen niedergelegt hatte. Die Vertreterin der Linke fehlte. Vorher fand noch ein Dringlichkeitsantrag nicht die notwendige Mehrheit (mit der Folge, dass Geldmittel verfallen werden). Dann wollte in der Einwohner*innenfragestunde jemand wissen, wie denn die Verteilung der Autobesitzer*innen im Stadtbezirk nach Altergruppen sei, weil so viele Autos nach dem Schneefall nicht schnell genug freigeschaufelt wurden. Bei den anschließenden Anfragen aus dem Bezirksrat kam heraus, dass es bei dem Thema Anwohner*innenparken so schnell nicht weitergehen wird, denn die Stelle in der Verwaltung ist seit 2,5 Jahren nicht besetzt (vermutlich nicht wegen dem Geld, sondern weil keine geeigneten Bewerber*innen).
Irritationen gab es bei dem Tagesordnungspunkt „Weiterentwicklung der Integrationsbeiräte“, weil es keine der Fraktionen für nötig befunden hatte, sich die Drucksache durch die Verwaltung erläutern zu lassen. Dies irritierte den Sprecher des Integrationsbeirats, weil die Vorlage im Beirat nicht mehr vor der Beschlussfassung des Bezirksrats diskutiert werden konnte. Soviel zum Thema innerparteiliche Kommunikation.
Danach kam das inzwischen für mich langweilige Thema Fahrradstraßen, wobei die CDU- und SPD-Anträge die Mehrheit fanden, die Änderungsanträge der Grünen jedoch nicht. Sehr vorhersehbar. Ich weiß zwar nicht, was eine Bürgerbeteiligung bringen soll, die Karten sind längst auf dem Tisch und die Fronten verhärtet, insofern war der CDU-Antrag (eingebracht vor einem halbem Jahr und danach zweimal wegen Beratungsbedarf in die Fraktion gezogen) längst überholt, wurde aber aus Unvernunftsgründen trotzdem gestellt. Und die SPD konnte auch nicht erklären, wie denn die Aufhebung der Fahrradstraßen zu einer Verbesserung der Situation für Fahrradfahrer*innen führen kann. Vermutlich soll die Verwaltung jetzt möglicherweise rechtswidrige Änderungsvorschläge machen. Ich verstehe ja, dass die Bezirksratsmitglieder Feierabendpolitiker*innen sind, aber manchmal sollten sie sich schon eigene Gedanken und Vorschläge machen, wo sie doch nach eigenen Angaben so viel mit den Bürger*innen diskutiert hätten.
Die CDU hatte dann noch ein paar innovative Ideen in Anträge gegossen, so nach einem Mülleimer am Stephansplatz, der automatisch den Inhalt zusammenpresst, so dass die Ratten nicht mehr an Nahrungsreste kommen und hoffentlich (in andere Stadtteile?) weiterziehen (und hoffentlich presst der Mülleimer auch keine Ratten zusammen, sonst dürfte PETA einen Aufstand machen). Und ob Parksensoren an Kreuzungen ein Schritt in Richtung Digitalisierung sind wage ich zu bezweifeln, weil immer noch jemand kommen muß um das Kennzeichen des über dem Sensor stehenden Fahrzeuges zu erfassen, und möglicherweise steht es ja auch rechtmäßig (Feuerwehr oder Rettungswagen).

Sitzungsunterlagen | Protokoll

23.12.23

Die heiligen Narren

Thomas Lau "Die heiligen Narren. Punk 1976-1986" (Verlag Walter de Gruyter. 1992)

Anfang der 1990er Jahre gab es wenig deutschsprachige Literatur zum Thema Punk, insofern war der Erwerb dieses Buches unvermeidlich. Viel ist nicht bei mir hängen geblieben. Vor kurzem bin ich aber auf eine Rezension von Hubert Knoblauch gestoßen und da wurde mir klar, was das grundlegende Problem des Buches ist. Lau zieht Parallelen zwischen Punk in Westdeutschland 1986 und Bettelmönchen und Narren des Mittelalters. Aber lässt sich diese angebliche Traditionslinie auch für die Zeit davor belegen, für Westdeutschland 1979 oder auch England und USA 1976? Da habe ich meine erheblichen Zweifel, denn viele der analysierten Accessoires von Mitte der 1980er Jahre wie bunte Haare, Irokesen, Nietenkaiser und so weiter sind typisch für die damalige Schnorrerpunk-Szene, aber haben keinerlei Vorläufer zu den Anfängen von Punk. Dieses Missverständnis manifestiert sich auch im Bildteil des Buches, als einziges taucht hier ein frühes Bild von Sid Vicious auf und der sieht darauf völlig harmlos aus.

21.12.23

Hannover DVDs

Gerade ist mir aufgefallen, dass in "Wie der Punk nach Hannover kam" auch die 2010 erschienene "Jugend 80"-DVD vergessen wurde, was ich mal zum Anlass nehme, eine Liste von DVDs mit historischen Aufnahmen aus Hannover zusammenzustellen. Federführend ist hier das Filminstitut Hannover, angesiedelt an der Hochschule Hannover (vormals FH Hannover). Zwischen 2006 und heute sind 25 DVDs erschienen
Rote-Punkt-Aktion in Hannover, 1969 (1994): Super-8-Aufnahmen mit einem neueren Kommentar
Der Kriminalfall in Hannover (1924) - Ein Fragment -: Teile eines Kinofilms über Fritz Haarmann, der damals verboten und eingezogen wurde
Menschen am Sonntag – Impressionen einer Stadt (1961)
Ein Sommertag im Zoo (1971): für PETA-Freunde nicht empfohlen
Blumenkorso 1954 Hannover
Alle machen mit. Der Wiederaufbau in Hannover (1960): im Auftrag der Stadt Hannover entstanden
Die Kunst geht auf die Straße (1970)
Mosaik einer Stadt. Man muß sich nur zusammensetzen (1960): im Auftrag der Stadt Hannover entstanden
Das Gesicht einer Stadt, der Originalfilm der Döring-Film-Werke (1932)
Kunstaktionen in Hannover – Fünf Filme von Rudolf Dornis (1977/1979/1988/1990/1994)
Begegnung mit Herrenhausen (1959)
Der Große Garten (1965)
Zweiter Weltkrieg und Wiederaufbau – Sechs Filmdokumente 1940-1950 (1940/1943/3x1945/1950): Wehrmachts-Paraden, amerikanische Panzer in Linden, Trümmer
Georg Ludwig Friedrich Laves 1788-1864 (1988)
Die "bunten"Siebziger - Drei Filmdokumente (1968-69/1974/1975)
Sinnvolle Freizeit (1962): die ersten Freizeitheime in Hannover und was damals die Jugend so machen durfte
Elisabeth II. in Hannover (1965)
Die Stadt menschlicher machen – Hannover 1972: im Auftrag der Stadt Hannover erstellt
Tempo - Verkehr und Motorsport in den 1930er Jahren (2x1931/1934/1938/1939): besonders schön ein früher Lehrfilm für Fahrschüler
Damals – mit der ÜSTRA unterwegs (1955/1965/1976)
Vom Bau des Anzeiger-Hochhauses und der Schachtschleuse Anderten bei Hannover (1929/1928)
Filmgalerie und Galeriefilm (1965/1965/1997)
Hoch hinaus - Bredero, Kröpcke und Ihme-Zentrum (1960-1975/1973/1975)
Zwischen Aufbau und Aufbruch (1961/1964/1965)
Jugend- und Drogenhilfe um 1980 (1978/1981)
Hannoversche Filmschätze: Die 20er und 30er Jahre/Die 40er und 50er Jahre (2007)/Die 60er Jahre (2007)/Die 70er Jahre (2007)/80er Jahre (2007), Hannoversche Filmschätze Sport Die 30er, 40er und 50er Jahre (2008)/Die 60er und 70er Jahre (2008/Die 80er und 90er Jahre (2008), Hannoversche Filmschätze Spezial - Der Pott. der legendäre Pokalsieg von Hannover 96 [1992]: 2007 veröffentlichte der Madsack-Verlag (Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse) eine Box mit 5 DVDs mit historischen Filmaufnahmen zwischen 1920 und 1990 im Stil einer Fernsehdokumentation mit Interviews von Zeitzeugen und Historikern, ein Jahr später gab es im gleichen Stil eine 3 DVD-Box mit Aufnahmen von Sportveranstaltungen zwischen 1930 und 2000, dazu eine Dokumentation über Hannover 96 und den Pokalerfolg 1992
Linden - Ein Arbeiterlied. Erinnerung an eine Gegenwart (1991): ein Film über die untergegangene Arbeiterkultur im Stadtteil Linden
Unter den Straßen von Hannover - eine unterirdische Geschichte (2006)
Rudolf Hillebrecht. Planen für die Zukunft (2010)
Weltliche Schulen (1922-1933) (2013): Erinnerungen an proletarische Bildungsarbeit vor der Machtergreifung durch die Nazis
Niedersachsen im Dritten Reich Historische Filmaufnahmen [Teil 1 Süd-Hannover-Braunschweig] (2014)
Niedersachsen im Dritten Reich Teil 2 - Der Norden (2015)
Hannover Auf Schmalfilm 1950 bis 1990 (2017): eine Sammlung von editierten Privatfilmen

19.12.23

Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven

Philipp Meinert/Martin Seeliger (Hg.) "Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven" (transcript, 2013)

Eigentlich ist es Zeit, Punk (und Rockmusik generell) in Deutschland mal wissenschaftlich zu betrachten, etwas, was in den englischsprachigen Ländern schon eine längere Tradition hat. Die Cultural Studies sind zwar in Deutschland angekommen, aber Rockmusik ist noch nicht allgemein würdig genug der wissenschaftlichen Beschäftigung (zumindest in der Zeitschrift POP Kultur & Kritik taucht es gelegentlich auf). Zudem gibt es in Punk eine (noch?) gewisse "Intelellen"-Feindlichkeit, sicherlich befeuert von nervenden wohlmeinenden verständnisvollen Sozialarbeitertypen aus der Hippie-Generation. Was aber etliche Punks auf ihrem späteren Lebensweg nicht daran gehindert hat, selbst in die Wissenschaften zu gehen. Ich vermute mal, sie haben ihre "Jugendsünden" nicht wie ein Plakat vor sich hergetragen, andererseits ab einem gewissen Standing in der Hierarchie kann mensch schon offener damit umgehen und überhaupt schreibt es sich am besten, wenn mensch selbst etwas vom Thema versteht. Trotzdem entstehen Bücher über Punk, die mehr als nur Erinnerungswerke sind, häufig außerhalb des universitären Systems. Insofern ist das Buch, Verzeihung der Reader, "Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven" von 2013 bisher eine Ausnahme geblieben (und vielleicht sind Rap und HipHop gewinnbringender als Thema, weil multikultureller als der (alte?) weiße Punk).

Der Reader versammelt 14 Beiträge von verschiedenen Autor*innen, von denen mir 2 aus dem Plastic Bomb bekannt sind, also gehe ich davon aus, dass alle einen Szene-Bezug haben, der angesichts des jeweiligen Alters unterschiedlich sein dürfte. Dabei sind die Beiträge recht vielfältig, von eher persönlichen Berichten bis zu Texten, die abgesehen vom Inhalt den wissenschaftlichen Standards entsprechen. So wie der Betrag von Nejc M. Jakopin, Gitarrist u.a. von den Sexy Bacterias, der über die Vereinbarkeit von Unternehmertum und DIY-Ethik schreibt, eine Analyse, die etlichen DIY-Protagonist*innen zu denken geben könnte. Oder auch Thomas Hecken, Redakteur der Zeitschrift POP Kultur & Kritik, der die Wandlung der Wahrnehmung von Punk in der Musikzeitschrift Sounds (die Spex der 1970er Jahre) zwischen 1976 und 1979 beschreibt (ein Thema, dass ich gerne näher beleuchten würde, auch in bezug auf Repräsentation von westdeutschen Bands in dem Magazin, insbesondere Bands aus Hannover). Dieser Beitrag könnte m.E. der Ausgangspunkt für eine umfassendere Analyse der Berichterstattung über Punk in den (west)deutschen Medien in diesem Zeitraum (wie der Spiegel-Artikel "PUNK - Kultur aus den Slums: brutal und hässlich" vom Januar 1978) und ihren Einfluss auf die Szene sein. Während Philipp Meinert versucht, die APPD und die übliche Parteienkategorisierung in Übereinstimmung zu bringen, stellt Peter Seyferth die Frage,, ob Punk und Anarchismus wirklich zusammengehören. Weitere Beiträge nehmen sich die Chaostage, Punk in der DDR, Skinheads, Skatepunk, Elektropunk, Super-8-Filme, NDW und Trash, sowie die Verwendung des Slogans "Verschwende deine Jugend" vor. Insgesamt viel interessantes Gedankenfutter, es sei denn mensch steht auf Zynismus à la ZAP.

17.12.23

Rockmusik und Gruppenprozesse

Florian Tennstedt "Rockmusik und Gruppenprozesse. Aufstieg und Abstieg der Petards. Mit musikalischen Analysen von Günter Kleinen" (Wilhelm Fink Verlag München 1979)

Zum ersten Mal begegnet bin ich dem Buch in der Stadtbibliothek Hannover, Warum mich das Buch interessiert hatte kann ich im Nachhinein nicht sagen, möglicherweise war es die Vorstellung, etwas vergleichbares zu Simon Friths "Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene" (rororo 1981) über deutsche Rockmusik zu finden. Auch wenn ich damals vermutlich nicht alles verstand - der Autor hat bewusst eine verständliche Sprache gewählt und theoretische Ausführungen sind eher zurückhaltend (S. 178) - sind einige Inhalte doch bei mir hängen geblieben, insbesondere das Bewusstsein für die Kommunikation innerhalb von Musikkapellen und das Reflektieren des eignen Rollenverständnisses. (Bin ich zu dominant, lasse ich anderen genug kreativen Freiraum, was sind die Ziele der Band und was die Lebensziele der Mitglieder, passt das zusammen oder drohen hier Konflikte, sollen mögliche Bruchstellen ignoriert oder angesprochen werden?) Genauso interessant ist die Geschichte dieser eigentlich ziemlich vergessenen Kapelle (es gibt aber eine umfassende CD-Box bei Bear Family), deren große Zeit die zweite Hälfte der 1960er Jahre war (Jürgen Gleue hat mir mal eine Kassette ausgeliehen mit eine Live-Mitschnitt von ich glaube 1967 mit vielen Coverversionen - die Band hat später auch unter anderem Namen Titel von Creedence Clearwater Revival eingespielt), wo die Band begann eigene Songs zu schreiben. Relativ weit verbreitet war ihre erste LP "A Deeper Blue", die auf dem Billiglabel Europa erschien, danach veröffentlichten sie immerhin beim renommierten Liberty-Label. Trotzdem stellte sich der große Erfolg nicht ein, die Band verpasste den Anschluss an den krautigen Zeitgeist. Das Buch gibt zudem einen interessanten Einblick wie das Musikgeschäft damals funktionierte, insbesondere das Wirken der Fanclubs. Nachdem ich das Buch gelesen hatte dauerte es mehrere Jahre bis ich dann tatsächlich Schallplatten der Petards fand, als erstes die "Pretty Liza"/"Rainbows and Butterflys"-Single, für mich ein liebenswerter naiver Versuch in Psychedelia. Soweit ich das überblicke hat der Autor sich danach nie wieder mit Rock- und Popmusik beschäftigt, dafür aber zahlreich zu historischen sozialwissenschaftlichen Themen publiziert. Auch sonst scheint das Buch ein Unikat zu sein, zumindest ist mir nicht bekannt, dass es über ein andere deutsche Kapelle ein ähnliches Buch mit einem soziologischen Blick gibt.

15.12.23

Wir sind die Türken von morgen

Ulrich Gutmair „Wir sind die Türken von morgen. Neue Welle, neues Deutschland“ (Tropen, 2023)

Wer die Leseprobe des Verlags im Internet liest, könnte einen etwas falschen Eindruck von dem Buch erhalten. Es geht dem Autor keineswegs darum, die Geschichte der ndW neu zu erzählen. Vielmehr nimmt er den Text von "Kebaträume" bzw. "Militürk" von Gabi Delgado-Lopez als Ausgangspunkt für verschiedene Überlegungen im Zusammenhang mit den einzelnen Textzeilen. So wird das Wort "Türken" als Ausgangspunkt zur Diskussion des Verhältnisses von Gastarbeiter*innen und Deutschen begriffen und ob sich es überhaupt einen migrantischen Einfluss auf die ndW gab. Neben DAF und der Limburger Kapelle Wirtschaftswunder mit dem Italiener Angelo Galizia am Gesang findet auch der Titel "Ask, Mark ve Ölüm" von Ideal Erwähnung, aber das war es dann schon, wie überhaupt die Kultur, die die Gastarbeiter*innen mitbrachten, von den Deutschen ignoriert wurde (dazu lief vor kurzem die schöne Fernsehdokumentation "Songs of Gastarbeiter") außer für rührselige Schlager wie "Griechischer Wein" von Udo Jürgens. Dabei machte die Kölner Plattenfirma Türküola gigantische Umsätze mit Musik von und für türkische Migrant*innen. In den westdeutschen Medien wurde aber die Angst vor den Türken und Angst vor dem Verlust "deutscher" Identität geschürt, was Gutmair zu längeren Ausführen über die Herkunft des Begriffs der Identität und seine Problematik nutzt. Um dann irritiert auf die Hannoveraner Kapelle Deutschland zu stoßen und sich von ihrem Bassisten Andreas Pessel erklären zu lassen, was alles an dem historischen Artikel "Alles, was Sie schon immer über Punk wissen wollten (But Were Afraid to Ask)" von Klaus Abelmann journalistische Übertreibung ist. Dann ist Gutmaier plötzlich bei den "Wilden Cliquen" in Berlin der 1930er Jahre und es wird klar, dass dem Buch der rote Faden fehlt, der die Themen Kultur der Gastarbeiter*innen, weibliche Emanzipation, Homosexualität (Gutmair erwähnt die Cretins, aber nicht Der Moderne Man) deutsche Vergangenheit und Identität zusammenhält. Es bleibt unklar, was uns der Autor mit dieser Materialsammlung sagen will.

Tatsächlich ist dies kein Buch über Punk oder die originale NdW, dies ist ein Buch über den Songtext "Kebabträume" und was mensch alles in ihn hineinlesen oder aus ihm herausholen kann. Das ist überwiegend interessant, aber es ist nicht das Buch, was ich mir gewünscht hätte. Ich war vor einigen Jahren bei einer Lesung/Vortrag von Wolfgang Seidel zu seinem Buch "Wie müssen hier raus!", im dem er den ursprünglichen Impuls des Krautrock, insbesondere die englischen Texte und die Elektronik, als bewussten Reflex, als Ablehnung gegenüber der damaligen herrschenden Massenkultur (Heimat, Schlager usw.) deutet. Und genau so ein Reflex ist die westdeutsche Interpretation der Punk-Idee und der originalen ndW gegenüber der (west)deutschen Massenkultur der 1970er Jahre einschließlich der versteinerten Hippies. Deshalb deutsche statt englischer Texte, deshalb Punk statt akustischer Gitarren, deshalb Körpermusik statt kosmischer Kuriere. Es ist die Weigerung, sich zwischen BRD und RAF zu entscheiden, und diese Weigerung eröffnete ein weites neues Feld an Ausdrucksformen, von dem die von Gutmair angesprochenen Themen nur ein Teil sind, wenn auch ein wichtiger.

PS: Es gibt zu dem Buch eine Spotify-Playlist, der ebenso wie dem Buch ein roter Faden fehlt. Laut Spotify sind die Titel "Das quietschende Bett" und "S-Bahn" von Östro 430 sowie "Dachau-Disco" von The Cretins "unangemessen", was immer das bedeuten mag, zumal "Sexueller Notstand" von Östro 430 und "Samen im Darm" von The Cretins nicht in den Genuss dieses Prädikats kommen, ebenso wenig wie "Das Lied der Deutschen" von Nico.