3.3.20

Theodizee

(...)
Wenn ich nicht dem Musizieren der Patres zuhörte, las ich in meinem Augustinus. Ich kam an die Stelle, wo er sich, bildlich gesprochen, die gehirnlichen Zähne ausbiß, nämlich zu der Frage, daß, logisch gedacht, Gott nicht gleichzeitig allmächtig und allwissend sein kann. Die Patres wunderten sich über meine Lektüre. Sie hatten zwar während ihres Theologiestudiums fünf, sechs Bücher über Augustinus gelesen, aber weder sie noch ihre Kommilitonen noch ihr Professor waren auf den Gedanken gekommen, den Augustinus selber zu lesen. Ich kann mir schon denken, warum, sagte es aber nicht. Weil man ihn sonst als Häretiker betrachten müsse und seine vergoldete Statue, die neben der Kathedra Petri in Rom steht, abschrauben und ins Depot schleudern.
"Es ist erstaunlich, was da alles drinsteht", sagte ich, "zum Beispiel das mit der Willensfreiheit Gottes."
"Wie das?" fragte P. Kapistran.
"Ja, nun. Wenn Gott allwissend ist, weiß er genau, was er morgen tut. Oder?"
"Daran ist kein Zweifel."
"Kann er aber dann morgen seinen Plan ändern und etwas ganz anderes tun? Nein, denn dann wäre er heute nicht allwissend."
"Das leuchtet allerdings ein."
"Also", fuhr ich fort, "ist Gott morgen an seine Allwissenheit von heute gebunden und kann seinen Willen nicht ändern. Ist dem zuzustimmen?"
"Allerdings", sagte P. Colasanctius.
"Also ist Gott das einzige Wesen, meint Augustinus, das keinen freien Willen hat, womit er auch nicht allmächtig ist."
"Das ist freilich eine fatale, aber nicht zu leugnende Schlussfolgerung", sagte P. Kapistran.
"Augustinus tröstet sich damit, daß vor ihm bereits Cicero an dieser Frage gescheitert ist."
"Wenn so gescheite Leute sich vergeblich den Kopf darüber zerbrechen", sagte P. Colasanctius, "dann sollten wir erst recht nicht darüber nachdenken." Und sie ergriffen ihre Instrumente und spielten das ergreifende Lied "Wo find' ich nur mein Kälbchen wieder?" aus der Oper: "Der unglückselige Birnenhändler" von Christian Arbogast Kochterhundt.
(...)


Aus der Erzählung "Im Bärenthale", erschienen in "Die Kaktusfrau. Erzählungen" von Herbert Rosendorfer, erschienen 2012 bei Kiepenheuer & Witsch, S.223/224

Keine Kommentare: