28.10.23

Wie der Punk nach Hannover kam

Klaus Abelmann, Detlef Max & Hollow Skai (Hrsg.) "Wie der Punk nach Hannover kam" (Hirnkost 2023)

Eine Kritik sollte, um für die Leser*innen nutzbar zu sein (im Sinne von lohnt sich eine Lektüre des Buchs für mich oder nicht?), den Standpunkt, vom dem aus die Kritik erfolgt, offen legen.

Die Idee, ein Buch über Punk in Hannover zu schreiben, geisterte schon länger in meinem Kopf herum, wobei mich immer wieder Selbstzweifel daran hinderte, wirklich mit so einem Projekt anzufangen, von wegen bin ich als "Person aus der zweiten Reihe" dazu geeignet oder überhaupt befugt? Jetzt gibt es dieses Buch "Wie der Punk nach Hannover kam", doch mein Bauch sagt mir: das kann es noch nicht gewesen sein, da fehlt doch so viel.

Nun ist es richtig , dass der/diejenige, die/der als erstes das Wort ergreift, die nachfolgende Diskussion bestimmt, mit allen Fehlern, Irrtümern und Auslassungen. Das ist eine Feststellung und kein Vorwurf an die Herausgeber, denn die Rahmenbedingungen, um nicht zu sagen Zwänge, die bei der Produktion von "Wie der Punk nach Hannover kam" offenbar zu berücksichtigen waren, sind deutlich erkennbar (ob die Zwänge selbstverschuldet sind vermag ich nicht zu sagen). Das beginnt bereits bei dem Titelbild, das eine klischeehafte Szene vor dem Hannoverschen Hauptbahnhof featuring Karl Nagel zeigt, die ich zeitlich zwischen 1982 und 1984 einsortieren würde, also lange Jahre nachdem Punk nach Hannover gekommen war und damit außerhalb des Fokus des Buchs (gleiches gilt für den Betrag Nagels zu dem Buch). Vielleicht war ein geeignetes Foto von 1978/79 nicht auffindbar, auf jeden Fall wäre es weniger medienwirksam gewesen, weil Punk damals einfach harmloser aussah.

Das Buch besteht aus den persönlichen Erzählungen verschiedener Protagoinist*innen, die ihre individuelle Beziehung zu Punk beschreiben. Das ist interessant zu lesen und natürlich erfährt auch der/die Zeitgenoss*in Details, die ihm/ihr vorher unbekannt waren, denn die Szene in Hannover war nicht einheitlich sondern eine Ansammlung verschiedener Cliquen (ist das nicht immer so?). Die Frage ist, ob die ausgewählten Protagonist*innen ein einigermaßen vollständiges oder ein eher einseitiges Bild liefern. Hier haben die Herausgeber erkennbar in ihrem Bekanntenkreis herumgefragt, es sind viele Musiker*innen dabei. Das ist m.E. ein Problem, weil Musiker*innen um ihre Leidenschaft umzusetzen ihr Leben relativ organisiert führen müssen. Andere Punks, die weniger kreativ waren und eher konsumierten (abhängen und Konzerte besuchen) haben andere Erinnerungen an diese Zeit. Allerdings sind diese Personen weniger bekannt, verschwanden oft aus der Szene ohne große Spuren zu hinterlassen, und sind daher heute schwer zu kontaktieren, unabhängig davon, ob sie ihre Erinnerungen preisgeben möchten. Diese Menschen zu finden erfordert Zeit und ich vermute die hatten die Herausgeber eher nicht. Und dann gibt es noch die Fanzine-Macher*innen, die als Beobachter*innen noch andere Erfahrungen gemacht haben.

Als ich von den Herausgebern für kleiner Beiträge (Discografie? Südstadt-Punx?) kontaktiert wurde stand bereits der Veröffentlichungstermin nebst Event fest. Ein solch enges zeitliches Korsett schränkt natürlich die Recherchemöglichkeiten ein und beeinflusst das Ergebnis, was aber den meisten Leser*innen (diejenigen, die damals nicht Teil der Szene waren, also 99,9% der Bundesbürger*innen) nicht auffallen dürfte. Und so gelangen Fehler, Irrtümer und Auslassungen (bei den Abbildungen der Hannover-Platten fehlen der KZ36-Sampler mit Blitzkrieg und Kondensators, der Into The Future-Sampler mit Hansaplast, die 1. Phosphor-Single, Kosmonautentraum, Klystron und Torture, die Unterrock-LP, die Ihmespatzen-Maxi, der Zu Gast Bei-Sampler und die Mäzen-Single, Musikkassetten werden gar nicht erwähnt) in die öffentliche Wahrnehmung. (Aber ist das nicht immer so bei Erinnerungen?)

Was leider fehlt in den Buch und damit verhindert, dass es ein Standardwerk werden könnte, ist die Analyse. Also nicht nur erzählen wie der Punk nach Hannover kam, sondern auch fragen warum er nach Hannover kam, was das besondere am Punk in Hannover im Vergleich zu anderen Städten war, vielleicht sogar zu fragen warum Punk überhaupt in Westdeutschland auf einen fruchtbaren Boden fiel, wo doch die ökonomischen und gesellschaftlichen Umstände andere waren als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten (eigentlich nur New York und Los Angeles) (und man könnte auch überlegen, warum Punk in der Schweiz früher einschlug und Österreich hinterherhinkte) (wobei die Fokussierung auf von Sex Pistols, Ramones usw. inspirierte Bands m.E. zu kurz greift, weil gleichzeitig zahlreiche andere Musikprojekte auftauchten, die inspiriert von der Energie des Punks ganz andere künstlerische Wege beschritten, was dann u.a. in der Neuen Deutschen Welle endete). Wie eine solche Analyse aussehen könnte kann man wunderbar in der Buchbesprechung von Hartmut El Kurdi in der taz vom 24.5.2023 nachlesen! Wobei ich den Blickwinkel weiter fassen würde, nämlich was neben der Musik noch für die Punkszene inspirierend war, z.B. Filme wie "Eraserhead" von David Lynch, "Brennende Langeweile" und "Punk in London" von Wolfgang Büld oder das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" von Christiane F. Es gab zudem in Hannover eine umfangreiche Szene von Fanzine-Machern (ich erinnere mich an keine Frauen, die Fanzines machten) (bei den abgebildeten Fanzines fehlen übrigens "Der 7. Wahn" und "AitL (Anarchy in the Literature)". Und was ist mit bildender Kunst (documenta 6)? Auch wäre es interessant, sich konkreter mit einzelnen Gruppen zu beschäftigen. Ich persönlich vermute, dass die Rolle von Hans-A-Plast für die Verbreitung von Punk in Deutschland komplett unterschätz wird, schließlich hatte die Band sich eine eigene PA angeschafft um überall auftreten zu können. Ich schätze Hans-A-Plast ist die Punkband mit den meisten Auftritten in Westdeutschland zur damaligen Zeit (die Düsseldorfer Kapellen kamen bis auf den Plan nie nach Hannover). Zudem ist das Aufblühen der westdeutschen Independent-Szene ohne No Fun Records mit der Verbindung zu Ton Steine Scherben und dem Boots-Plattenladen/-Vertrieb schlecht denkbar. Auch der Einfluss sexueller Minderheiten (Unterrock, Der Moderne Man) auf die Szene wäre interessant zu betrachten (wobei ich gar nicht weiß, ob Unterrock jemals aufgetreten sind).

"Wie der Punk nach Hannover kam" ist eine Ergänzung zu Jürgen Teipels "Verschwende deine Jugend", der ja Hannover in seiner "Geschichtsschreibung" über Punk in Westdeutschland komplett unterschlagen hat (ich kenne die erweiterte Fassung noch nicht - und wann soll ich das alles überhaupt lesen), geht aber inhaltlich über das Erzählen von damals nicht hinaus. Das Thema ist also noch nicht abgeschlossen.

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