12.10.23

Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt

Bernd Hahn, Holger Schindler - "Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt" (1983, Buntbuch-Verlag Hamburg, 240 Seiten, 19,80 DM, heute nur noch antiquarisch)

Auf den ersten Blick fällt die Gestaltung dieses Buches auf: chaotisch, Buchstaben- und Bildschnipsel, Collagen aus Text und Grafik, so sahen viele Fanzines damals Anfang der 1980er Jahre aus - und "Punk. Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung" von Hollow Skai. Der war dann auch damals ziemlich angepisst, als er das Buch in seine Hände bekam, und meinte, die beiden Autoren hätten ihm das Layout aus seinem eigenen Buch geklaut. Nun, ich würde von sehr starker Inspiration sprechen. Im Mittelteil des Buchs versuchen Hahn und Schindler eine Art Fanzine zusammenzukleben, aber die Auswahl ihrer Themen und Bilder ist eine andere als die der Punks der damaligen Zeit, insbesondere fehlen jegliche eigenen Bildquellen wie Konzertfotos oder eigene Zeichnungen. An einer Stelle geben sie selbst zu, dass ihnen die Verbindungen um an solches Material heranzukommen einfach fehlen würden. Das liegt auch an ihrem Hintergrund, sie kommen aus der Musikerszene vor Punk, teilweise mit Jazz Rock-Erfahrung. Sie stehen so für denjenigen Teile der westdeutschen Jugendkultur der 1970er Jahre, denen die Sinnhaftigkeit ihres bisherigen Lebensziel abhanden gekommen war und die sich nun von Punk ein neues Leben erhofften. Sie übernahmen die neue Ästhetik und landeten damit oft in der NDW, doch blieben sie oft nur Imitatoren, weil sie die Wurzeln des neuen Lebensgefühls nicht verstanden. Und so ist auch dieses Buch nur Imitation von Punk und Neue Welle. Hahn und Schindler erklären Punk nicht selbst sondern schreiben nur aus anderen Büchern und Zeitschriften wie SoundS ab, dazu das Lebensgefühl und die Beschreibung der politischen Lage in Westdeutschland aus der taz, und so weiter. Außer in den eigenen biografischen Texten enthält das Buch keinen eigenständigen Gedanken, noch nicht einmal ein Konzept - halt, am Ende gibt es ein paar Seiten für Lehrer*innen über Subkulturtheorie - oder einen roten Faden. Ein Buch von Außenseitern, die behaupten Teil der Szene zu sein. Ein Buch als Dokument des eigenen Scheiterns, was okay wäre, würden die Autoren es auch selbst bemerken, was Hahn und Schindler aber nicht tun.

Rezension zuerst erschienen im OX August 2019)


Das Argument 143: Hahn, Bemd, und Holger Schindler: Punk - die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt. Buntbuch Verlag, Hamburg 1983 (240 S., br., 19,80 DM) Die Ironie, die im Titel durchscheint, ist Bestandteil sowohl des Punk wie dieser Untersuchung über Punk. Eine Lehrer-Kollegin schrieb mir nach der Lektüre, das Buch habe ihren Begriff von Punk"dynamisch erweitert". Ich vermute, das konnte sie nur feststellen, weil nicht nur der Punk - als kulturelles, d.h. politisches und musikalisches Phänomen - in seiner ganzen Dynamik deutlich wird, sondern sich das auch in einer ungemein dynamischen Darstellungsweise ausdrückt. Darunter leidet zwangsläufig die Wissenschaftlichkeit, aber darum geht es den Autoren auch gar nicht. Im Gegenteil:"Um dem Thema 'Punk' gerecht zu werden, haben wir eine Darstellungsweise gewählt, die den untersuchten Gegenstand nicht akademisch steif, systematisch und langweilig abhandelt, sondern ihn durch eine adäquate grafische und literarische Technik zu veranschaulichen und zu analysieren sucht."(6) Die Stärke ist zugleich die Gefahr des Buches: Ohne kritische Distanz, ohne vorgefertigte Schemen und Kriterien wird nachvollzogen, beschrieben, zugeordnet und bewertet - orientiert an eigenen Erfahrungen. Wo die Autoren Hinweise auf wissenschaftliches Herangehen geben, werden ihre Ausführungen oberflächlich und gehen keinen Schritt über Bekanntes zur Subkulturforschung (R. Schwendter, G. Kurz) hinaus (201ff.). Um Punk zu verstehen, gehen die Autoren auf die Ursprünge zurück und schildern die Londoner Underground-Scene des Jahres Hier wie auch in anderen Kapiteln geraten die soziologischen Zusammenhänge stets etwas eindimensional, wenn es z.b. heißt:"punk - das war das Spiegelbild ihrer Lebenssituation, die geprägt war/ist von fortschreitender Jugendarbeitslosigkeit, Zunahme staatlicher Repression in nahezu allen Bereichen, von der Langeweile, die der Isolation und Monotonie moderner Schlafstädte entspringt..."(20) Natürlich ist das nicht falsch, aber die Aneinanderreihung von weder begründeten noch problematisierten Ursachenfeldern ersetzt hier das mühsame Geschäft der Analyse. Die Ausführungen zu den musikalischen Mitteln, den textlichen Qualitäten und aggressiven Repräsentationsformen sind dagegen überzeugend und hautnah. Nach einem Rückblick auf die Subkultur der 50er Jahre (52ff.), auf eigene musikalische Versuche in den 60er und 70er Jahren (60ff.) werden die wichtigsten deutschen Gruppen sachkundig skizziert und kritisch bewertet (69ff.) sowie die Vermarktung der subkulturellen Impulse durch Mode- und Musikbranchen nachgezeichnet. War Punk einmal anti-kommerziell und auf einen Kunstbegriff aus, der die etablierte Opern-Elite Kunst überwinden wollte ("Punk spielen kann jeder. Punk ist ein Lebensgefühl", 77), so ist die daraus hervorgegangene sogenannte Neue Deutsche Welle"voll in industrieller Hand. Sie ist ein germanischer Industriezweig"(78). Wichtige Hintergrundinformationen liefert ein Exkurs über"elektronik und Musik"(107ff.). Dem technisch wenig Versierten wird hier ein Grundkurs in den musikalischen Möglichkeiten des Computer-Zeitalters vermittelt. Das Kapitel über"fanzines", die wichtigsten schriftlichen Mitteilungsformen der Punk-Scene, gibt auch Auskunft über die Produktionsweise des Heftes (l5lff.). Das Buch wird zunehmend selbst zum"fanzine", die Beschreibung des"chaos"wird durch ein neues"chaos"aus Songtexten, Bildern, Sprüchen usw. vorgenommen. Über weite Strecken ist das Buch eine Fundgrube von authentischen Ideen und Plattheiten. Wer auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung des Phänomens Punk zwischen Subversivität und Kommerz ist, muß zwischen den Zeilen lesen und den Wust von Material zu einem eigenen Gebäude ordnen können. Frank Dietschreit (Hamburg)

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