7.3.22

Punk ist tot, lang lebe Punkrock

Gleich zu Anfang möchte ich etwas klarstellen und zwar ist das, was viele Menschen an irgendwie philosophische/soziologischen Betrachtungen schreiben in der Regel ein Versuch, das eigene Verhalten vor sich oder ihre Mitmenschen zu rechtfertigen. Das bedeutet, nur diejenigen Betrachtungen, die Selbstkritik enthalten oder irgendein Unbehagen mit der eigenen Position artikulieren, sind interessant und für das eigene Selbstbild weiterführend. Unter dieser Prämisse ist der Artikel "Ausländer nehmen den Deutschen keine Arbeitsplätze weg - weiße Cis-Männer nehmen Frauen nicht die Bühne weg" (ZAP #157) ein kompletter Ausfall.

Aber zuerst zum Titel dieses Textes: schon vor längerer Zeit habe ich für mich definiert, dass Punk eine Einstellung zum Leben/zur Gesellschaft ist, die mensch in jedem gesellschaftlichen Feld finden kann, also Musik, Literatur, Politik, was weiß ich. Punkrock ist dagegen eine kulturelle Nische mit eigenen Regeln wie andere Jugend-/Sub-/Rentnerkulturen. Doch warum ist das eine tot und das andere lebt? Weil Punk in der BRD nicht mehr funktioniert.

Punk ist eine kulturelle Erscheinung in einer stark von sozialen/moralischen Regeln bestimmten Gesellschaft, wie es die BRD bis Ende der 1970er Jahre war, ähnlich der englischen Klassengesellschaft in diesem Zeitraum. Meine Beobachtung ist weiterhin, dass Punk nicht gleichzeitig auf dem gesamten Erdball Wirkung gezeigt hat, sondern in unterschiedlichen Gegenden zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufblühte. Dies hat nichts damit zu tun, dass die Erzählung Punk unterschiedlich lange Wege genommen hat um in einzelnen Gesellschaften anzukommen, sondern dass Punk nur fruchtbar werden kann, wenn bestimmte soziale/gesellschaftliche Bedingungen eintreten. Die Wüste blüht nur, wenn Regen fällt, bis dahin schlafen die Samenkörner im Boden, siehe das Video von Sonic Youth "1991 - The Year Punk Broke".

Punk wird bei seinem erstmaligen Auftreten von großen Teilen der jeweiligen Gesellschaft nicht verstanden. Dies liegt daran, dass Punk im Wesentlichen "dagegen" ist, gegen die vorherrschenden gesellschaftlichen/moralischen Vorstellungen der Mehrheit. Punk nimmt dazu Positionen ein, die von der Mehrheit nicht verstanden werden, weil es diese Positionen in der versteinerten Gesellschaftsordnung bis dahin nicht gegeben hat. Das gleiche gilt für die vielzitierten Vorläufer wie DaDa und Situationismus. Aus dieser Provokation zieht Punk seine Kraft und seine Existenzberechtigung. Das legt es nahe, auch andere gesellschaftliche Provokationen, die im wesentlichen aus einem "dagegen" gegenüber den gesellschaftlichen Mehrheiten bestehen, gefühlt als Punk zu verstehen.

Doch so einfach ist es in Bezug auf die BRD heute nicht mehr. Seit den 1980er Jahren haben sich die westlichen Gesellschaften geöffnet, wir leben in einer Zeit des "anything goes", was für viele gesellschaftliche Minderheiten die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Akzeptanz eröffnet hat. Es sind viele neue gesellschaftliche Einstellungen ge-/erfunden worden. Und das ist das Problem um nicht zu sagen das Todesurteil für Punk. Während es früher hieß "was ist das denn?" heißt es heute "ist das nicht?". Wer heute gegen etwas ist findet sich in der Regel plötzlich von Mitmenschen umgeben die die gleiche Position aus einem "dafür" entwickelt haben. Punk will aber nicht "dafür" sein. Wenn mensch jedoch mit seinem "dagegen" immer bei einer bereits existierenden "dafür"-Position landet (die es früher nicht gab, aber jetzt möglich ist), dann funktioniert "Punk sein" eben nicht mehr, weil wo ist die Provokation wenn mensch damit nur andere in ihrem Glauben bestätigt? 1977 konnte Sid Vicious noch mit einem Hakenkreuz-T-Shirt herumlaufen, weil es keine gesellschaftliche Gruppe gab, die seinem Aussehen und Auftreten entsprochen hätte. (Neo-)Nazis sahen damals ganz anders aus, sein Aussehen und Verhalten fand ebenso wie bei der spießigen Mehrheit keine Zustimmung bei ihnen. Heute wäre das anders.

Weil das "dagegen"-sein so heute nicht mehr funktioniert ist Punk zumindest in den westlichen Gesellschaften tot. Ich persönlich habe mich schon vor Jahren davon verabschiedet danach zu fragen wogegen jemand ist, weil wie gesagt mensch sich dann in Allianzen wiederfindet die mensch nie eingehen wollte (und wenn doch dann war diese Person nie Punk). Wie sagte damals der bekannte Neonazi-Führer Michael Kühnen: "Ich bin gegen Atomkraft weil es das deutsche Erbgut schädigt". Ich frage lieber danach, "wofür" die Menschen sind, auch weil die meisten Menschen das gar nicht beantworten können. Gegen etwas sein ist so einfach, aber was bitte sollte nach "Merkel muß weg" an ihrer Stelle kommen?! Hat übrigens auch kein*e Journalist*in gefragt.

Für etwas zu sein ist also definitiv kein Punk. Die heutige Punkszene funktioniert aber nach Regeln, die festlegen wann etwas Punk ist und wann nicht. Sicher sind diese Regeln etwas vage aber nichts desto trotz existieren sie, sonst wäre ja keine Abgrenzung zu Nazis/HipHop/Metal/Schlager möglich. Ich verteufle diese Regeln nicht, einige sind für meinen Geschmack zu eng, andere zu weit, aber ich akzeptiere diese ungeschriebenen Regeln, denn sonst könnte die Punkszene als eigenständige Subkultur nicht existieren. Ich nenne das aber nicht mehr Punk, sondern Punkrock. Dieser Punkrock existiert im übrigen schon sehr sehr lange, für mich ungefähr seit Anfang der 1980er Jahre, als die Musik und das Verhalten von Punk von einer jungen linksradikalen Szene entdeckt und adoptiert wurde, was von Teilen das damaligen Szene wohl mehr als nur akzeptiert wurde, auch weil damit Hilfe gegen die ständige Drangsalierung durch Polizei, sonstige Ordnungskräfte und andere Spießbürger*innen kam. Andere Teile der Szene fanden das nicht so toll und wurden zu Nazi-Skins. Und die ganzen Künstler*innen/Avantgardist*innen, die sich durch den ursprünglichen Punk-Impuls in ihrer Kreativität bestärkt fühlten (Berliner Krankheit, Düsseldorfer Szene) fanden sich plötzlich aus Punk ausgeschlossen, weil ihr Verhalten den neuen "Punkrock-Regeln" widersprach. Einer der klassischen Wendepunkte war da das "Geräusche für die 80er Jahre"-Festival in Hamburg. Oder auch die "Metal Box" von Public Image Limited, eigentlich auch schon die vorherige "First Issue"-LP. Viele Bands gingen unter, weil sie sich im Gegensatz zu ihrem Publikum musikalisch weiterentwickelten, aber nicht immer ein neues fanden.

Wie gesagt, Punkrock braucht zu seiner Existenz die Einhaltung bestimmter Regeln, viele davon stammen aus der seit langem assoziierten linksradikalen Tradition, die Konflikte in der Szene zeugen aber davon, dass linke Gesellschaftsvorstellungen und Punkrock Schnittmengen haben aber nicht identisch sind. Zudem wird auch nie thematisiert, dass Punk seine Wurzeln im Individualismus hat, daher seine Affinität zum Anarchismus, weshalb er auch nicht in Gegnerschaft zum Kapitalismus tritt wie der aus der Tradition des Kommunismus kommende Linksradikalismus. Tatsächlich ist jede*r Musiker*in, Fanzinemacher*in, Plattenproduzent*in - um mal die wichtigsten Kulturproduzenten von Punkrock zu benennen - ihre/seine eigene Unternehmer*in, nicht angestellt und ausgebeutet, sondern selbständig und sich selbst ausbeutend. (Dass sie sich trotzdem antikapitalistisch geben ist ein Nebenwiderspruch, den sie genauso aushalten wie die Nazis damals von schaffenden (= deutsche Handwerker und Bauern) und raffenden (= jüdische Kaufleute) Kapital unterschieden, das ist jetzt eine sehr böse Analogie, aber Jeff Bezos und dein lokales DIY-Label sind beide Teil der allumfassenden Marktwirtschaft, no doubt about it.)

Aber ich wollte mich eigentlich zu Sven Bock (der übrigens einen extrem berührenden irgendwie Nachruf auf seinen Stiefvater im ZAP #159 geschrieben hat: "Ich will nicht werden was mein Alter ist: Hartmut") und dem oben genannten Artikel äußern. Zum einen ist bereits der Titel "Ausländer nehmen den Deutschen keine Arbeitsplätze weg - weiße Cis-Männer nehmen Frauen nicht die Bühne weg" ein gedanklicher Kurzschluss, weil die Ausländer ja zumeist nur die Arbeitsplätze bekamen/bekommen, für die sich Deutsche zu fein waren/sind sie auszufüllen (etwas was die Briten gerade durch die Folgen des Brexit brutal selbst erfahren). Weiße Cis-Männer dagegen halten die sogenannte gläserne Decke gegen FLINTA*s weiterhin aufrecht, und wenn einer ausfällt werden weiterhin Geschlechtsgenossen bevorzugt (was aus einer animalischen Perspektive durchaus schlüssig ist, weil das Vertrauen zu Artgenossen wächst mit der Ähnlichkeit, aber wo wäre dann noch der Unterschied zwischen Mensch und Tier?). Und da sind wir bei den sogenannten Privilegien. Es reicht nicht aus zu sagen, man sei als Cis-Mann nicht privilegiert oder nehme solche Privilegien nicht wahr, vielmehr muss mann aktiv dagegen ankämpfen, solange das Umfeld einem weiterhin diese Privilegien zuschreibt, solange die Umgebung wissentlich übersieht, dass der Kaiser keine Kleider anhat/anhaben will. Hat nicht gerade der Präsident des DAAD seine Bewerbung als Präsident der HU Berlin zurückgezogen, weil er nicht Teil eines rein männlichen Gremiums sein wollte? Wer diese Situation nicht reflektiert suhlt sich weiterhin in seiner privilegierten Männlichkeit. Trotzdem verlange ich nicht sich FLINTA*s zu unterwerfen, was ich verlange ist die Situation zu reflektieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, egal welche. Mag dabei der eine oder andere zu dem Schluss kommen, dass FLINTA*s zu Recht im Punkrock nichts zu suchen haben, aber dafür müsste er/sie/es erst mal ein stichhaltiges Argument finden (Gene, Körperbau, Sozialisation, Frauen bestehen aus mehr Wasser als Männer und sind deshalb geschwätziger, es war doch Eva, die Adam zu Essen des Apfels verführt hat und eigentlich sind alle Frauen rachsüchtig wie Adams erste Ehefrau Lilith). Leider geht Swen Bock diesen Weg nicht. Anstatt irgendeinen Beleg zur Rechtfertigung der aktuellen Lage im Punkrock zu suchen wirft er mit Beleidigungen und Unterstellungen um sich. Wieso muss ich wenn ich eine Diskriminierung akzeptiere auch alle anderen akzeptieren? Verlangt das Anerkennen von Black Lives Matters gleichzeitig die Unterstützung von BDS? Wieso ist das Anerkennen von unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten "positiver Rassismus"? Das Akzeptieren von Unterschieden heißt nicht, dass die Unterschiede zu unterschiedlichen Rechten und Pflichten führen. Und die Behauptung Privilegien seien "ein Resultat menschlichen Handelns in einem Faktorengefüge, das zu komplex ist, um es zu modellieren" liegt noch unter dem Niveau von "was kann ich als Einzelner denn gegen den Klimawandel ausrichten, da habe ich doch gar keinen Einfluss drauf, das sollen mal die anderen machen". Von welchem "menschlichen Handeln" spricht Bock denn hier? Ist er zu faul/doof zu bemerken, dass er mit seinem eigenen Handeln sehr wohl auf Privilegien verzichten kann, bzw. auf seine Umgebung Einfluss nehmen kann indem er deren Handeln, das ihn privilegiert, zurückweist? Das sind alles Gedanken, die sich Bock gar nicht machen will, mit seinen Ausfällen will er sich einfach die ganze Diskussion vom Halse halten und einfach sein bisheriges (privilegiertes) Leben weiterführen. Gleichzeitig hat er nicht begriffen, dass seine Dagegen-Haltung, insbesondere seine Argumente ihn in die Nähe von CDU, AfD und Verteidigern des Patriarchats rücken (siehe meine anfängliche Beobachtung, dass Meinungen meistens nur zur Rechtfertigung eigenen (Nicht-)Handelns dienen). Wie oben dargestellt funktioniert die Methode Punk im Jahre 2022 in der BRD nicht mehr. Wer aber die Regeln des Punkrock nicht anerkennt schließt sich selbst aus der Szene aus. Ob ich mich selbst noch als Teil von Punkrock empfinde steht auf einem anderen Blatt. Aber das nimmt mir nicht das Recht die Szene zu beobachten und mir meine Meinung zu bilden, auch wenn diese nicht wichtiger ist als die Meinung anderer Menschen (es sei denn es sich Meinungen ohne jeglichen argumentativen Unterbau).

Exkurs:
Geschlechtergerechtigkeit im Punkrock hat sich verschiedene Aspekte. Zuerst ist zu fragen, was denn der Anteil von Frauen (und anderen Minderheiten) im Punkrock ist. Für den Bundestag ist die Frage ja einfach zu beantworten, da Frauen die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung stellen (tatsächlich sind es 50,7 %) sollte auch die Hälfte der Abgeordneten weiblich sein. Dem könnte entgegenstehen, dass das Geschlechterverhältnis in den politischen Parteien eher männerdominiert ist, aber es ist ja Aufgabe des Bundestags Entscheidungen für die gesamte Bevölkerung zu treffen und nicht die Parteien zu repräsentieren, insofern haben dann Frauen in den politischen Parteien (nicht allen und teilweise auch nur theoretisch) bessere Karrierechancen, was dann einige Männer als Verstoß gegen ihre angenommenen Privilegien ansehen. Aber im Punkrock gibt es keinen Bundestag, wie also sollen die Geschlechter im Punkrock repräsentativ abgebildet werden? Und ist bildet sich die Repräsentanz im Querschnitt ab oder aufgeteilt nach Aufgabenbereichen (teile und herrsche)? Aber wie ergeben sich bestimmte Abweichungen in den einzelnen Aufgabenbereichen (Bands, Publikum, Infrastruktur wie Organisation, Verpflegung, Öffentlichkeitsarbeit etc.), sind sie den jeweiligen Interessen der Geschlechter geschuldet oder Ergebnis subtiler patriarchaler Mechanismen? Oder gibt es grundsätzlich unterschiedliche Bedürfnisse von Männern und Frauen/FLINTA*s, die die Idee von Punkrock für Frauen/FLINTA*s weniger attraktiv machen (wobei dabei zu berücksichtigen wäre diese solche unterschiedlichen "Bedürfnisse" durchaus gesellschaftlich geprägt sein können)?

Andererseits gibt es einzelne Gruppen, die von ihrem Arbeitsfeld mehr öffentlichkeitswirksame Macht haben als andere wie z.B. Fanzinemacher*innen. Und da diese Journalist*innen darin frei sind worüber sie berichten sind sie nicht verpflichtet irgendeine Geschlechterrepräsentanz zu erfüllen, insbesondere da diese publizistische Möglichkeit wegen des einfachen Zugangs zu den Produktionsmitteln auch allen anderen Mitgliedern der Punkrockszene zur Verfügung stehen. Daher wenn das Plastic Bomb nur noch über FLINTA*s schreiben möchte und das Zap über Cis-Männer, wer hat das Recht die Herausgeber*innen dafür zu kritisieren, Niemand ist verpflichtet diese Magazine zu kaufen, jeder kann sein eigenes Fanzine machen. Der Nachteil ist, dass wer sich in die Öffentlichkeit begibt muss damit rechnen kritisiert zu werden und hat kein Rechts das zu untersagen (solange das nicht strafrechtlich relevant ist, aber das ist keine Zensur, weil Zensur vor der Veröffentlichung wirkt, Strafe aber erst hinterher).. Und zugegeben, Plastic Bomb und Zap haben sich über Jahrzehnte ein gewisses Standing erarbeitet, gegen das ein*e Anfänger*in erst mal nicht ankommt. Die gleiche Meinungsmacht zu erlangen verlangt eine lange Aufbauphase.

Aber möglicherweise liegt das Problem ganz woanders, dass hier individuelle Erfahrungen verallgemeinert werden, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern. Wobei bei den Männern das zusätzliche Problem auftritt, dass sie, wenn sie kein Gefühl für sexistisches Verhalten haben es auch nicht beobachten, weshalb sie mit voller Überzeugung behauptet können dass es so was nicht gibt und sie trotzdem falsch liegen, wenn denn die Frauen anfangen ihre Erfahrungen zusammenzutragen und bestimmte Mechanismen dahinter zu erkennen. Also liebe Cis-Männer, statt abstreiten zuhören und selbst hinschauen.

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