17.7.06

Wollen wir uns alle Duzen?


Etwas erstaunliches ist heute passiert: der Bild-Zeitung ist keine Schlagzeile eingefallen. Hat die Hitze die Redakteurs-Hirne lahmgelegt? Oder was könnte sonst die Ursache für den nicht vorhandenen Nachrichtenwert dieser Schlagzeile sein? Keine kosmischen Strahlen, die unsere Horoskope durcheinanderbringen? Keine Meteoriten, die zu nah an der Erde vorbeifliegen? Nicht mal ein Krieg im Nahen Osten, vor dem Deutsche fliehen müssen? Übrigens stieß ich gestern beim zappen durch den alltäglichen Fernsehmüll auf ein Gespräch von Focus-Markwort mit irgendeinem bärtigen Typen, der aber tatsächlich sagte, dass früher das deutsche Fernsehpublikum das beste der Welt gewesen aber inzwischen verblödet worden sei, und jetzt sei das französische Fernsehpublikum das Beste der Welt. Danke Helmut Kohl, dass Du uns das Privatfernsehen geschenkt hast. Aber ohne die jahrzehntelange Vorarbeit der Bildzeitung wäre die Verblödung nie so perfekt geworden. Die Bild-Schlafzeile oben erinnerte mich zudem an einen Artikel aus der SPEX von 3 Jahren, der sich anlässlich von "Deutschland sucht den Superstar" mit dem bereits 1961 erschienen Buch "The Image or What Happened to the American Dream" von Daniel J. Boorstin (auf deutsch "Das Image. Der amerikanische Traum" bei Rowohlt, Hamburg, erschienen). Hier ein paar Zitate aus dem Artikel von Bettina Schuler, die sich ohne weiteres auf die obige Bildschlagzeile und die ganze WM-Hysterie übertragen lassen:

"(...) "Pseudo-Ereignis" nennt der Historiker Daniel J. Boorstin dieses Phänomen. In seinem Buch "THE IMAGE or What Happened to the American Dream" (New York, 1961) beschreibt Boorstin, wie durch das Anwachsen der amerikanischen Massenmedien die Notwendigkeit der unermüdlichen Nachrichtenproduktion gestiegen ist. Die gegebenen Ereignisse reichten nicht mehr aus, um die Spalten der Zeitungen zu füllen und so ging man dazu über, synthetisch erzeugte Pseudo-Ereignisse zu produzieren, die sich einzig und allein um ihrer Selbst willen ereignen und eine Kette von Pseudo-Ereignissen und Nachrichten nach sich ziehen.

"Dadurch, dass wir mehr verlangen, als die Welt uns geben kann, fordern wir, dass etwas fabriziert wird, was über die Unzulänglichkeit der Welt hinwegtäuscht" (Boorstin 1961).

Dabei wird der Erfolg dieser künstlich erzeugten "Events" einzig und allein an dem Ausmaß der Berichterstattung gemessen. Durch eine konstante Präsenz der Ereignisse innerhalb der Berichterstattung wird dem Zuschauer eingeredet, dass es sich um bedeutende Ereignisse handeln MUSS. (...)

Doch es geht nicht einfach um eine künstliche Herstellung von Nachrichten und Ereignissen. Hinter der Produktion von Pseudo-Ereignissen wie "[DSDS]"
(oder dem Aufblasen von Sportveranstaltungen zu nationalen Großevents - MF) steckt auch eine bestimmte Informationspolitik, die sich nicht nur auf den kulturellen Bereich beschränkt.

"Das Missverhältnis zwischen dem, was ein informierter Bürger wissen sollte, und dem, wovon er Kenntnis erlangt, ist immer größer geworden. Dieses Missverhältnis wächst mit der Zunahme der Möglichkeit, etwas offiziell verheimlichen und verbergen zu können" (Boorstin 1961).

So ziehen sorgsam inszenierte und medial propagierte Pseudo-Ereignisse die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und geben dem Nachrichtenkonsumenten durch eine Übersättigung an Berichterstattung ein trügerisches Gefühl des Informiert-Seins, das weitere Fragen ausschließt Die Trennung von staatlicher Propaganda und inszenierten Pseudo-Ereignissen, wie sie Boorstin in den 60ern vornahm, scheint hier nicht mehr zu greifen. "Die propagandistische Lüge wird dargeboten, als ob sie wahr sei. Ihr Zweck ist die Leute dahin zu bringen, die Wahrheit einfacher und verständlicher zu halten, als sie in Wirklichkeit ist" (Boorstin 1961). (...)

Es geht also weder um Kulturverfall, noch um eine Moralisierung. Es geht darum, sich gegen eine mediale Propaganda zu wehren, die unter dem Mantel von Authentizität zu einer Normalisierung von Autoritätsglauben und Anpassung beiträgt Alternative Wege, die sich gegen die standardisierten durchsetzen können, werden dadurch als realitätsfern abgetan und ausgeschlossen. Dabei sind sie durchaus vorhanden, wenn auch meist weniger erfolgreich."


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