30.5.06

Neue Deutsche Welle


"Neue Deutsche Welle" ist für viele Menschen ein Hass-Begriff, steht er doch für eine Zeit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, in der deutschsprachige Schlager mit debilen Texten und amateurhafter Begleitung die Hitparade in Deutschland verstopften. Ich sage nur Hubert Kah. Leider ist der Begriff etwas früher entstanden und stand ab 1979 für eine überschäumende musikalische Kreativität im deutschen Untergrund, die sich nicht einfach in die Schublade Punk stecken lies wie z.B. Deutsch Amerikanische Freundschaft, Mittagspause, Der Plan, S.Y.P.H., Wirtschaftswunder, Palais Schaumburg, Mythen in Tüten, Bärchen und die Milchbubis, Mania D., Freiwillige Selbstkontrolle und und und, wovon ja einiges auf dem lobenswerten "Verschwende Deine Jugend"-Sampler zu hören ist. Leider wurde der Begriff ndW von der Industrie für ihren Schrott besetzt (okay, nichts gegen Trio (1.LP) und Ideal, deren großartige dritte LP "Bi Nuu" leider völlig vergessen ist), und jetzt steht dieser frühe Independent-/DIY-/Avantgarde-Kram ohne eigenes Etikett da und wird daher völlig übersehen. Vielleicht sollte man den Industriekram einfach "Neuer Deutscher Schlager" (ndS) nennen? Als Erfinder des Begriffs "Neue Deutsche Welle" gilt übrigens der Journalist und spätere Blumfeld-Manager Alfred Hilsberg, der diesen für seine dreiteilige Artikel-Serie "Aus grauer Städte Mauern" in der Musikzeitschrift Sounds von Oktober bis Dezember 1979 verwendete. Aber Frieder Butzmann weist zu Recht auf der Cassettenbeilage zum Magazin Blecheimer und Luftpumpe #1 darauf hin, dass der Begriff erstmals von Burkhard Seiler in einer Anzeige für seinen Laden und Versand "Der Zensor" in Berlin zur Bewerbung der ersten DAF-LP (die gelbe auf Warning Records/Atatak) verwendet wurde, und diese Anzeige erschien bereits in der August-Ausgabe von Sounds 1979.

Neue Deutsche Welle - Aus grauer Städte Mauern (Alfred Hilsberg, Sounds 10/79)
Dicke Titten und Avantgarde - Aus grauer Städte Mauern (Teil 2) (Alfred Hilsberg, Sounds 11/79)
Macher? Macht? Moneten? - Aus grauer Städte Mauern (Teil 3) (Alfred Hilsberg, Sounds 12/79)

Reiseruf (berichtigt)


Neulich im Frühstücksradio ("Hallo Wach" von Radio Flora) kam die Ansage, dass es jetzt Staumeldungen und einen Reiseruf gäbe. Reiseruf? Das waren doch diese Meldungen "Herr A aus K, unterwegs in Norddeutschland mit einem roten Opel Kadett wird dringend gebeten, seine Familie anzurufen". Und die übrigen Radiohörer rätselten immer, welches Familiendrama sich da wohl zugetragen haben könnte. Sohn überfahren? Frau gestorben? Haus abgebrannt? Seitdem aber jeder ein Handy mit sich rumschleppt braucht es keine Reiserufe mehr. Außer für die Menschen, die sich weigern Handys zu benutzen, oder sie vergessen. Letzte Woche sollte der gesuchte Autofahrer seinen Sohn auf dem Handy anrufen.
Die Möglichkeit des Reiserufs wird wahrscheinlich bald genauso vergessen sein wie früher die jährlichen Sirenenübungen, die nach dem Fall der Mauer und damit nach dem Ende der täglichen Gefahr einer Invasion durch die Rote Armee, aufhörten. Sirenen, was war das noch mal?

28.5.06

Komm doch mal raus du Flasche


Eine Single mit dem Titel "Komm doch mal raus du Flasche" ist schon bizarr, besonders wenn sie sich als Werbeplatte der Rederei HADAG für Butterfahrten nach Helgoland zum zollfreien Einkauf herausstellt. Die gesanglichen Fähigkeiten der beiden Interpreten – obwohl dies nicht ihre einzige Plattenveröffentlichung ist - sind eher begrenzt und die Musik des Heinz-Sanden-Quartett besteht aus Walzer mit viel Heimorgel und nur 3 Akkorden. Die Texte sind stumpf bis grenzwertig – "Vom Nordpol bis Havana, gibt’s nur eine lange Anna, mit gar nichts an und doch so treu" (Lange Anna ist der berühmte Felsen von Helgoland, der auch auf der Single-Hülle abgebildet ist). Mein Exemplar hat hinten eine Widmung "Ahoi liebe Edeltraud – Heinz Sanden", also nehme ich an, die Platte musste man wirklich kaufen und bekam sie nicht einfach geschenkt. Erscheinungsjahr vor 1983, da die HADAG laut wikipedia seit jenem Jahr nur noch den Hamburger Hafen befährt.

Carl Bay "Komm doch mal raus du Flasche"/Heinz Sanden "Fahr mal nach Helgoland" (Single, MIT HADAG NACH HELGOLAND PF-108, ohne Jahr)
Carl Bay "Komm doch mal raus du Flasche" (mp3)

24.5.06

Personenkult


3 Fotos vom hannoverschen Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 22.5.2006 ...

21.5.06

Hard Core Dude


Instrumentalstücke in Rock- und Pop sind meist formelhaft, was aber kaum auffällt, weil sie so selten sind. (Der Vorwurf ist auch ungerecht, weil Rock- und Popmusik an sich sehr formelhaft ist, nur die Variationsbreite einer menschliche Stimme kann eben besser darüber hinweg täuschen als das Saxophon von Johnny and The Hurricanes, die Orgel von Booker T. and the MGs oder die Gitarre der Shadows.) Instrumentalstücke von Punkbands sind noch seltener, weil ja eigentlich Ausdruck der Beherrschung der Instrumente und daher ja so was von unpunkig wie lange Haare und Kiffen (ähm...). Hard Core Dude haben mit "He’re The Charles Durning" ein solch seltenes Exemplar in ihrem Programm, was bis vor kurzem noch auf lostfrog.net zu hören war, aber seit einigen Wochen nicht mehr – ich vermute, Herr Durning hat Einspruch dagegen erhoben, dass Hard Core Dude Dialoge aus seinen Filmen als Einleitung für jedes ihrer Stücke verwendeten. Daher habe ich es auch weggeschnitten. lostfrog ist übrigens ein Netzlabel, dass sich nicht auf elektronische Musik spezialisiert hat, sondern eher Krach anbietet, mal ernst, mal pubertär, aber auch R. Stevie Moore hat ein Album mit seinen Homerecordings aus 3 Jahrzehnten gespendet.
Hard Core Dude "He’re The Charles Durning" (mp3)
http://www.lostfrog.net/

17.5.06

Konrad K. R.I.P. (ergänzt)

Vielleicht nicht die beste Idee diesen Blog mit einem Nachruf zu beginnen ...

Am 11.Mai verstarb Konrad Carls, einigen sicher eher unter seinem Künstlernamen Konrad K. bekannt. Konrad war 1 Jahr jünger als ich und wir begegneten uns erstmals im Herbst 1979 in der blühenden Punkszene Hannovers, als ich in meinem Fanzine Muzak eine Autogrammkarte der Teens verwendet hatte mit dem Kommentar, das sei die neue Autogrammkarte der Kondensators. Dafür drohte mir die Band, bei der damals Konrad Bass spielte - ich spielte Bass bei TBC - Prügel an. Wir standen auch mal gemeinsam auf der Bühne spontan nach einem Konzert von Charge im UJZ Kornstraße und spielten Blitzkrieg Bop von den Ramones. (Weshalb es mich irritierte, dass Konrad wenig Verständnis dafür hatte, dass ich nach dem Tod von Dee Dee Ramone dessen Foto auf die Startseite von Legal Kriminal packte.) 1980 verlor ich Konrad aus den Augen, weil ich "musikalisch falsch abbog", soll heißen, ich hörte Public Image Ltd. und die ganzen anderen musikalischen Innovationen, die aus England, den USA und dem Ruhrgebiet kamen. Konrad blieb als Bassist bei Klischee und danach als Gitarrist und Schlagzeuger der Abstürzenden Brieftauben den Punkwurzeln treuer, aber das interessierte mich damals nicht mehr. Der Graben zwischen den Gossenkids und den Nordstadtnegern, die beiden Fraktionen der Szene - symptomatisch für die ganze Szene in Westdeutschland - war ziemlich tief.

In der 80er Jahren spielte ich bei Beatklub und danach in diversen Übungsraumlöchern, ohne je herauszukommen. Anfang 1994 las ich eine Kleinanzeige in einem hannoverschen Stadtmagazin, wo ein Gitarrist für eine Punkband gesucht wurde. Crissi, Konrads - damalige, obwohl die Beziehung ziemlich lange ging - Lebensgefährtin, hatte sie aufgegeben und als ich zum Gespräch vorbeikam erinnerte er sich an mich und 1979. (Nebenbei, noch ein anderer alter Punk-Sack reagierte auf die Anzeige: Horst Illing von Rotzkotz, der sich aber mit seiner Reaktion "Du bist ja ein Mädchen" darauf, dass sich Crissi am Telefon meldete, sofort unmöglich machte). So wurde ich Gitarrist bei Crassfish und im nachhinein bin ich Crissi und Konrad dankbar, dass sie mir die Chance gegeben haben, mich meiner Wurzeln zu besinnen und aus meiner Lebenskrise herauszukommen. Konrads Rolle bei Crassfish war eher die des Begleitmusikers, wobei ich nicht genau weiß, warum das so war - wir haben leider nie darüber gesprochen. Die Brieftauben waren damals in einer Krise, suchten nach einer neuer Richtung und lösten sich schließlich auf. Konrad wurde Bassist bei Rasta Knast, aber auch da hatte er neben HöhNIE und Martin K. eher die Rolle des Begleitmusikers. Als Rasta Knast zerbrachen und auch Crassfish sich dem Ende zuneigte entstanden Legal Kriminal, wo ich an dem Song "Abenteuer Sozialstaat" von Konrad - von ihm stammt der Text - und HöhNIE mitgeschrieben habe. Aber in der kurzen Spanne der Existenz dieser Gruppe wurde uns allen klar, dass Konrad gerne auf der Bühne stand, aber nicht so gerne als einer unter vielen, sondern eher als Frontmann - ob das auf die Dauer mit HöhNIE in der Band gut gegangen wäre weiß ich nicht, obwohl HöhNIE gerne gesehen hätte, dass sich Konrad mehr in die Band einbringt, aber vielleicht war Konrad dafür noch nicht so weit. Mit WKA - Wir können auch anders kam Konrad seinem Ziel wieder nahe, er schrieb neue Songs und stand im Mittelpunkt der Band.

Nach den Ende der Brieftauben stand für Konrad die Option im Raum, einem eher bürgerlichen Broterwerb nachzugehen, so wie es Mirko, David Spoo, sein Freund von den Kondensators und Klischee, sowie Gastmusiker bei den Tauben, Crissi, HöhNIE und auch ich machen, und er versuchte es mit seiner Plattenfirma Highdive, aber Konrad merkte schließlich, dass seine eigene Kreativität mehr Raum brauchte und er akzeptierte die daraus entstehenden Entbehrungen. Seine Frau Birgit unterstützte ihn dabei, wie auch er sie bei ihrer Arbeit als Reiseführerautorin, wofür beide ein halbes Jahr auf Kuba recherchierten - das Buch ist leider augenblicklich vergriffen.

Es ist interessant sich dabei zu beobachten, wie mensch beim Schreiben dieses Textes alle negativen Erfahrungen ausblendet, aber ich glaube das liegt in der Natur des Menschen, dass wir die Vergangenheit verklären, und vielleicht ist einiges von dem, was in dem Text steht gar nicht real, sondern nur Wunschdenken, aber das gilt dann auch für alle anderen Nachrufe. Aber vielleicht will ich auch niemanden der noch lebt verletzten, denn das Schreiben im Internet ist ja eine ganz andere Art der Kommunikation als das direkte Gespräch, da kann mensch verunglückte Äußerungen nicht einfach zurückziehen und als dem kollektiven Gedächtnis streichen.

Ich bin etwas erstaunt darüber, dass die Nachricht über Konrads Tod zwar schnell und weit die Runde gemacht hat, aber die Reaktionen im Kondolenzbuch http://www.kirche-laboe.de/wka/php/index.php doch etwas spärlich ausfallen. Ich denke auch, dass sich Konrad über den Spruch der Öhsen Bonkels "Nur die Besten sterben jung!" sehr geärgert hätte. Nicht nur, dass 44 Jahre nicht wirklich jung sind, sondern weil seine politische Meinung denen dieser Rechtsrocker diametral gegenüberstand (Anekdote am Rand: Die Cretins, hannoversche Punkband von 1979, hatten damals einen Song mit dem Titel "DDR" und dem Refrain "DDR, DDR, ihr seid uns Jahre hinterher, DDR, DDR, arg, ihr rafft nichts mehr", mit dem Konrad ziemliche Probleme hatte. Ja, wir waren alle jung, unwissend und dogmatisch damals.). Auch andere Einträge wie "Mögest Du da wo Du jetzt bist es besser haben als hier" finde ich ärgerlich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Konrad irgendeinen Glauben ans Jenseits hatte. Ich übrigens auch nicht. Es gibt kein Leben im Jenseits, mit dem Tod ist alles aus, und daher helfen Nachrufe auch keinem Verstorbenen. Sie helfen den Überlebenden (und ist auch der einzige Zweck einer kirchlichen oder nicht-kirchlichen Trauerfeier, den ich positiv finde) - und daher waren meine anfänglichen Bedenken, wie viel ich von mir in diesem Nachruf thematisieren sollte falsch, denn der Nachruf soll Trost spenden den Überlebenden, also auch mir. Und natürlich gibt es ein ewiges Leben - im Diesseits, denn solange es Menschen gibt, die sich an jemanden erinnern, lebt der Mensch weiter, und Konrad hat uns viel Musik hinterlassen, die wir immer wieder hören können. Es ist schmerzlich, dass nichts neues mehr hinzukommt, aber wir können dankbar sein für das, was er uns hinterlassen hat.

Legal Kriminal "Abenteuer Sozialstaat" (mp3)
http://www.legal-kriminal.de
http://www.highdive.de/h/crassfish
http://www.wka-online.de.vu

Nachtrag (30.5.06):
Laut David Spoo war das Problem, dass er und Konrad mit dem Cretins-Song "DDR" hatten kein "marxistisch-leninistisches", sondern es war der Vorwurf "Was interessiert mich die DDR, wir leben hier in der BRD", also eher der Vorwurf an die Cretins, ähnlich wie OHL einen bürgerlichen Standpunkt einzunehmen – was dann auch die Songs "Heimkind" und "Walter" in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt – anstatt sich um das zu kümmern was einen wirklich betrifft.