10.5.19

Conny Plank und Stalingrad (oder Leningrad)

Es ist uncool, mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe aus dem ersten Teil von Faust hausieren zu gehen, aber leider kann ich es nicht treffender ausdrücken: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist“ – eine Erfahrung, die ich schon häufiger gemacht habe. Wer etwas nicht selbst erlebt hat kann Geschichte nur mehr oder minder verfälscht nacherzählen, und auch die eigene Erinnerung ist nicht immer korrekt.
Was an Fakten bekannt ist ist folgendes: Während der Produktion der ersten Scorpions-LP „Lonesome Crow“ hat ihr Produzent Conny Planck der Band vorgeschlagen, sich in Stalin- oder Leningrad umzubenennen und auf der Bühne mit Stacheldraht aufzutreten.
In dem Dokumentarfilm „Mein Vater der Klangvisionär“ von Planks Sohn Stephan erzählt Klaus Meine: „Wir waren uns nicht ganz sicher, ob der Name Scorpions, jetzt wo wir unser allererstes Album machen, ob das so der richtige Name ist. Und da hat Conny den Vorschlag gemacht: Was haltet ihr davon, wenn ihr euch Stalingrad nennt? (Lachen) Im Grunde hat er ein bisschen das was Jahre später Rammstein gemacht haben, das hat er eigentlich vor Augen gehabt, eine deutsche Band, die wirklich auch so mit diesen deutschen Wurzeln ganz ins Extrem geht und die Bühne Stalingrad, die Bühne mit Stacheldraht verkleidet und so, er hat das richtig so ausgemalt. Aber wir dann so Conny (lacht) that’s a little too much.” Meine erzählt dies als anekdotische Erinnerung, nicht mit vorwurfvollen Unterton (anders z.B. Holger Czukay, der sich eher negativ an das Verhalten von Plank gegenüber seinem Sohn Stephan erinnert).
Die gleiche Situation taucht im aktuellen Rolling Stone in dem Artikel „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken“ von Jens Balzer auf, hier wird Rudolf Schenker wie folgt zitiert: „Der wollte, dass wir uns in Leningrad umbenennen und auf der Bühne Stacheldraht haben und solche Geschichten, so ähnlich wie später dann Rammstein. Richtig auf harte Schiene. Aber da haben wir gesagt, nee, wir heißen jetzt seit 1965 Scorpions, und wir wollen auch weiter so heißen, kommt gar nicht in Frage. Also haben wir den Produzenten gewechselt und als Scorpions weitergemacht.“
 Ich weiß nicht wessen Erinnerung genauer ist, war es nun Stalingrad oder Leningrad als von Plank vorgeschlagener Bandname, ging die Initiative zur Namensdiskussion von der Band aus oder von Plank? Die vom Balzer wiedergegebene Erinnerung von Schenker ist aber insofern ungenau, als die Band nicht den Produzenten gewechselt hat, sondern das zweite Album selbst produziert hat (in den Musicland Studios in München, sowie den Sachsen Studios (Ort unbekannt)). Wollte Plank nicht in einem fremden Studio arbeiten oder gefiel ihm der Stilwechsel der Band nicht? Dieter Dierks als Produzent und sein Studio in Stommeln kamen erst bei der dritten Scorpions-LP ins Spiel, allerdings bestand sein Kontakt zur Band schon vor den Aufnahmen zur zweiten LP.
Aber ist die Erinnerung von Schenker überhaupt ungenau, hat Balzer ihn korrekt zitiert oder vielleicht wegen fehlendem Tonmitschnitts des Interviews nur aus seiner Erinnerung? Und warum bringt Balzer überhaupt diese Episode über Plank in seinem Artikel – der ein Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Buch ist – unter? Der ganze Abschnitt geht eher über Bowies angebliche Faszination für Hitler und den Faschismus. Will Balzer suggerieren, dass auch Plank für rechtes Gedankengut offen war? Oder versteht er die Situation ganz falsch, weil er sich nicht in die damalige Zeit (1972 lag das Ende des 2. Weltkrieg 27 Jahre zurück, seitdem sind weitere 47 Jahre vergangen, als bald doppelt so viel Zeit) hineinfühlen kann? Die Scorpions sangen Englisch und spielten Musik, von älteren Deutschen vehement abgelehnt wurde, zudem produzierte und unterstützte Plank zahlreiche Bands, die sich jeglicher deutscher Musiktradition verweigerten. War der Vorschlag von Plank die Band solle sich Stalin- oder Leningrad nennen und mit Stacheldraht auftreten Ausdruck seiner Gesinnung oder eher das Gegenteil, die Idee die ältere deutsche Generation bewusst zu provozieren, oder gar nur ein Witz?
Wir werden es möglicherweise nie klären können, aber der Text von Balzer legt eher nahe, dass Balzer sich zu sehr von seiner antifaschistischen Einstellung leiten lässt („der Herren eigner Geist“) als tatsächlich den Versuch zu unternehmen, die Episode im historischen Kontext („Geist der Zeiten“) einzuordnen. Doch vielleicht liegt Balzer näher an der Wahrheit, weil Klaus Meine gegenüber Stephan Plank nicht zu sehr über dessen Vater schlecht reden wollte? Wir werden es möglicherweise nie erfahren. Eines ist aber klar, der Versuch aus der Gegenwart heraus die historische Wahrheit ermitteln zu wollen ist ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen. Annäherung ja, aber keine Wahrheit.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Das hast Du ja schön aufgedröselt, aber an sich beschreibst Du ein uraltes Problem, das nicht nur (Pop-)Historiker, sondern auch (wir) Juristen kennen und das Kant schon kurz vor Goethe wie folgt zusammengefasst hat:

Die Notwendigkeit zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit zu erkennen.

Man muss sich ja nun gelegentlich ein Bild von der Vergangenheit machen, um ein Urteil zu fällen, oder - ganz allgemein - eine Entscheidung zu treffen, die Fehler der Vergangenheit möglichst vermeidet.

Und der jeweilige Zeitgeist ruled nun einmal immer - Richter, Künstler und Historiker!

Vergleich nur mal die klassischen Western aus der John Ford Ära mit den Spaghetti-Western der späten 60er oder den Western aus der New Hollywood Periode. Da werden innerhalb desselben Sujets komplett verschiedene historische Wild West Welten (re)konstruiert.

Heute sind fast alle Pop-Autoren (die vom öden Stone nach meinem Dafürhalten noch am wenigsten) geprägt von 40 Jahren Poststrukturalismus und 30 Jahren political correctness Debatte, die zunehmend weniger Widerspruch erträgt. Über den Schatten kannst Du nicht mehr so einfach springen, wenn Du heute über den Pop der Vergangenheit oder historische Themen im Allgemeinen schreibst oder dokumentarfilmst.

Deshalb fand ich in den Achtzigern Aural History so spannend, z. B. die 'Edie'-Biography oder Uptight: The Velvet Underground Story, weil da nur O-Ton zu Wort kam. Dachte ich, aber tatsächlich sind ja viele Zeitzeugen erst Jahre später interviewt worden und waren in der Zwischenzeit Oper des Geistes einer späteren Zeit geworden. War im Ergebnis also auch keine Lösung.

Kant und Goethe haben also weiterhin Recht.

btw: Stalingrad wäre kein sooo schlechter Bandname, jedenfalls besser als Leningrad Sandwich.

btw II: Bowie hat ja 1976 und auch später in Abrede gestellt, den deutschen Gruß bewusst verwendet zu haben; er habe lediglich Fans zugewunken und das habe auf einem Foto nur so ausgesehen (vgl. Tobias Rüther, Helden, Berlin, 2008).

btw III: Dass Bild von Kippenberger 'Ich kann bei besten Willen kein Hakenkreuz erkennen" ist ganz große Kunst

Hugh, ich habe gesprochen,

Anonymus no. 2.

PS: Ganz toll fände ich es, wenn Du noch mal 39 Clocks Epigonen posten könntest. Ich habe meinen Soundfile verlegt. Danke vorab.