16.10.23

Punk Rock oder: Der vermarktete Aufruhr

Rolf Lindner (Hrsg.) - Punk Rock oder: Der vermarktete Aufruhr (1978, Verlag Freie Gesellschaft, 96 Seiten, damals 6,80 DM, heute nur noch antiquarisch)

Erklärungsversuche, was Punk ist, gibt es viele. Dies ist vermutlich der erste westdeutsche Versuch in Buchform, 1978 herausgegeben vom Soziologen Rolf Lindner, heute Professor im Ruhestand, mit einem Vorwort von Udo ("Im Ursprung finde ich punk sehr gut. Aber die Entwicklung im Punk finde ich ganz gefährlich.") Lindenberg. Der schmale Band enthält Übersetzungen englischer Texte - zum Teil älteren Datums - über "klassenspezifische Rockbedürfnisse" und "Arbeitslosen-Rock", zu Rock Against Racism, über die Sex Pistols, Clash, Punk und Reggae, dazu Auszüge aus englischen Fanzines und aus deutschen Medien, u.a. von Alfred Hilsberg. Lindners Analyse hangelt sich entlang an Fragen der Darstellung von Punk in der Presse und deren Wirkung auf Jugendliche, an Punk als politische Haltung, als Hard Rock-Revival und als Kommerz. Klar benennt Lindner, dass das Bild von Punk in Deutschland zuerst von den Medien geprägt wurde, unter anderem vom Spiegel mit seiner Titelstory "Punk - Kultur aus den Slums: brutal und häßlich", in dem die modischen Extreme zum Normalfall erklärt wurden. Die Folge war, daß die ersten deutschen Punks versuchten, diesem Bild zu entsprechen und zu Auftritten von ebenfalls dieses verzerrte Bild reproduzierenden Bands wie Straßenjungs und Big Balls And The Great White Idiot in ebensolcher Maskerade auftauchten, während Johnny Rotten wegen seines "normalen" Aussehens als Punk in Frage gestellt wurde. Ebenso erteilt Lindner dem Versuch, Punk politisch links oder rechts einzusortieren, eine Absage, weil diese Versuche unter dem fehlenden Zugang zur Erfahrungswelt und den Interessen der Punks leiden würden. Daß die Selbststilisierung der Punks als Proletarier oft nur Fassade ist arbeitet Lindner ebenso heraus wie daß die musikalischem Wurzeln des Punk in der Ablehnung des abgehobenen Rockadels und von überzogenen Virtuosentum liegen. Und er kommt zu der interessanten These, daß Punk eigentlich nur live authentisch ist und die Kommerzialisierung bereits mit der Konservierung der Musik auf Schallplatte begann. Wer sich für die Wurzeln von Punk in Westdeutschland interessiert findet hier eine interessante Materialsammlung.

(Es würde sich lohnen, dem langfristigen Einfluss dieser verzerrten Berichterstattung auf die deutsche Punkszene nachzuspüren, ebenso wie Punk trotz völlig anderer sozialer und ökonomischer Umstände als in England in Westdeutschland zur einflußreichen Jugendkultur werden konnte.)

Rezension zuerst erschienen im OX April 2019

Siehe auch: Rolf Lindner ist der erste deutsche Punkbuchautor. Wir haben ihn interviewt.

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