30.9.23

1. Berliner Punk-Symposium

Von manchen Veranstaltungen erfährt man erst im Nachhinein und ärgert sich, dass einem die Entscheidung, ob man vielleicht teilgenommen hätte oder nicht, abgenommen wurde. Ja, Punk und Post-Punk sind inzwischen Themen für die Sozial- und Kulturwissenschaften in dem großen Feld der Cultural Studies. Cultural Studies gibt es bereits seit Jahrzehnten und beackert ein weites Feld von kulturellen Phänomenen der Gesellschaft. Wobei bei anglo-amerikanischen Wissenschaftler*innen wesentlich weniger Berührungsängste gegenüber Phänomenen, die im deutschsprachigen Raum eher nicht zur Hochkultur zählen, also Rock- und Popmusik, Mode, Schundliteratur und Kinofilme, bestehen. Dementsprechend gibt es verschiedene englischsprachige Fachzeitschriften, in denen deutsche Themen nur am Rande auftauchen. Eine regelmäßige deutschsprachige Publikationsreihe zu Rock- und Popmusik ist mir nicht bekannt, die Halbjahresschrift Pop Kultur und Kritik surft quer durch alle kulturellen Phänome. Vielleicht könnte man die testcard beiträge zur popgeschichte als eine solche Publikationsreihe ansehen, von regelmäßiger Erscheinungsweise seit dem Tod des Mitbegründers Martin Büsser kann aber keine Rede mehr sein. Und die Reihe Rock Session bei rororo zwischen 1977 und 1985 war zwar verdienstvoll, aber eher journalistisch angelegt. Dabei gibt es grundlegende Werke schon seit Jahrzehnten wie z.B. Jugendkultur und Rockmusik - Soziologie der englischen Musikszene von Simon Frith, erschienen 1981 bei rororo (wo damals sehr viele Taschenbücher zum Thema Rock- und Popmusik erschienen). Daneben gibt es von Florian Tennstedt das Buch Rockmusik und Gruppenprozesse Aufstieg und Abstieg der Petards aus dem Wilhelm Fink Verlag München von 1979 (damals entdeckt in der Stadtbibliothek Hannover) und Rock People oder Die befragte Szene von Rainer Dollase, Michael Rüsenberg und Hans J. Stollenwerk, erschienen 1974 als Fischer-Taschenbuch (steht bei mir ungelesen im Regal, ich kann also nur Vermutungen über die Relevanz anstellen). Bücher zu Punk gibt es einige – ich muss mal eine kleine Bibliografie zusammenstellen – aber nicht viele sind mehr als nur journalistisch, soll heißen haben neben dokumentarischen Inhalten auch analytisches Potential. An älteren Werken fallen mir da nur Punk: Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung von Hollow Skai (1981), Die heiligen Narren. Punk 1976-1986 von Thomas Lau (1992) und Punks in der Großstadt Punks in der Provinz von Bruno Hefeneger, Gerd Stüwe und Georg Weigel (1993) ein. Eigentlich gehört Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik von Barbara Hornberger (2011) auch in diese Reihe, auch wenn Punk nicht der Schwerpunkt ist.<(p>

Aber zurück zum Punk-Symposium. So wie in der Politik jetzt die Generation derjenigen, die mit Rock- und Popmusik aufgewachsen ist, am Ruder ist und dementsprechend einen etwas anderen Stil als Konrad Adenauer und Zeitgenossen pflegt, so habe Mitglieder der Punk-Subkultur ihren Weg in die Sozial- und Kulturwissenschaften gefunden und scheuen sich nicht ihre privaten Erfahrungen und Insiderwissen zum Inhalt ihrer Arbeit zu machen. Ein erster Hinweis darauf war die Anthologie Punk in Deutschland. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, herausgegeben von Philipp Meinert und Martin Seeliger (2013). Und jetzt das 1. Berliner Punk-Symposium, das jedoch nicht nur deutschsprachige Beiträge hatte, sondern international besetzt war. Und das waren die Beiträge:

  • "Self-destruction" of lyrics in punk rock: from "sloganization" to "performative" vocal delivery (Sangheon Lee, Université Gustave Eiffel, France)
  • Vom Zeckenklatschen zum "Punkrock aus dem Volksempfänger" - Rezeption und Wandel von Punk in der rechten Rockszene (Philipp Meinert, Germany)
  • Mapping the Political Meanings of Punk after the 2010s: Songs of Boredom and Despair from Spain and Turkey (Selin Yagci, Universitat Oberta de Catalunya, Barcelona, Spain)
  • Scripting a Punk Feminist Revolution: The Political Imagination in the Early Songs of Pussy Riot (2011-2012) (Nadezda Petrusenko, Umeå University, Sweden)
  • Polish Punk Isn't Dead, It's Just Old and Drunk: Fluidity and Fragmentation (Caroline Skwara, Stanford University, USA)
  • Deutschpunk across the Border: Czech perspective (Ondrej Daniel, Univerzita Karlova / Charles University, Czechia)
  • Bowie, X-Ray Spex und Maxine Feldmann: Historisierungsprozesse und Archivierungspraktiken des Queeren im Punk (Kathrin Dreckmann, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Germany)
  • Punk Propaganda: Artistic strategies of subversion using media and language (Marie Arleth Skov, Curator, Art Historian, Writer)
  • DIY-Punk als reale Utopie? Utopische Affekte im Alltagsverstand von Punx // DIY-Punk as real utopia? Punx, utopian affect and common sense based practice (Georg Gläser, Universität zu Köln, Germany)
  • Sonic Landscapes of a gray city: Berlin, Cold War and Post-Punk (Luiz Alberto Moura, University Minho, Portugal)
  • We're not gonna take it anymore - Thatcherism, Punk and post-Punk (Ryan Summerbell, Teesside University, UK)
  • Spaces for Living? "Revol" Between the Politics of Appropriation and Culture of Destruction (Yifan Xia, Columbia University, USA)
  • Die Tödliche Doris spricht / The Deadly Doris talks (An Paenhuysen, independent curator and art writer)
  • Extrafall Rosa Extra oder Früh-Punk und Underground-Poesie in der DDR (Alexander Pehlemann, ZONIC, Autor, Kurator)
Es bleibt abzuwarten, ob es einen Tagungsband geben wird, bis dahin geben die Abstracts unter punk-symposium.de einen Eindruck davon, was man versäumt hat.

PS: Ja ich weiß, es gab mal im Kassel einen Punkkongress im September 2004, aber hat der irgendwelche Spuren hinterlassen? Die Webseite punk2004.de liefert leider keine relevanten Informationen.

1 Kommentar:

Philipp Meinert hat gesagt…

Danke für den schönen Blogbeitrag und schade, dass du so spät davon erfahren hast. Nächstes mal machen wir früher Werbung :) Eine Frage kann ich direkt beantworten: Ein Tagungsband ist leider nicht geplant. Tut mir leid. Dann vielleicht bis zum nächsten Punk Symposium!