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SPIEGEL: Gerade unter Unionspolitikern gehört es noch heute zum guten Ton, die 68er zu verdammen.
Biedenkopf: Ich kann mich einem solchen Urteil nicht anschließen, sondern halte es für eine unbegründete Verallgemeinerung.
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SPIEGEL: Und der Verfall der Werte?
Biedenkopf: Die Relativierung der Werte hatte damals schon längst begonnen. Das kann man aber nicht den 68ern allein anlasten. Verantwortlich waren vor allem ihre Eltern. Sie hatten sich geweigert, argumentativen Widerstand zu leisten. Eine wirkliche, inhaltliche, öffentliche Auseinandersetzung fehlte. Als die jungen Leute merkten, dass sie nicht auf Widerstand stießen, wenn sie beispielsweise die Familie als Hort der Repression niedermachten, wurden sie immer übermütiger.
SPIEGEL: Was hätten die Älteren denn tun sollen?
Biedenkopf: Sich den Fragen inhaltlich stellen und sich nicht mit Formverletzungen herausreden. Echte Autorität setzt immer Erklärungsaufwand voraus, den Verweis auf künftige Notwendigkeit. Es reicht nicht aus, sich auf die Tradition zu berufen. 1968 entlud sich ein aufgestauter Generationskonflikt. Die Nachwachsenden wollten von ihren Eltern wissen, wie es zum Nationalsozialismus und seinen Verbrechen kommen konnte und was das für Deutschlands Zukunft bedeutete. Die Älteren blieben die Antwort weitgehend schuldig. Die jungen Leute spürten die Verkrampfungen, die aus der deutschen Katastrophe rührten. Und sie gingen dagegen an.
SPIEGEL: Waren die allgegenwärtigen Rückbezüge auf die NS-Zeit nicht nur ein vorgeschobener Grund für die Revolte?
Biedenkopf: Mein Eindruck war, die Jüngeren litten auch darunter, dass die Älteren nicht mit ihnen über die Vergangenheit sprachen. Schließlich lastete die Hypothek der Nazi-Verbrechen auch auf den Nachwachsenden. Sie gerieten in Erklärungsnot: Wie sollte man sich auf einer Frankreich-Reise verhalten, wenn man als Nazi-Deutscher beschimpft wurde? Als ich 1949/50 das erste Mal in den USA war, hatte ich Angst, ich könnte auf der Straße angespuckt werden. Das ist zum Glück nie passiert. Heute können wir auf all das Positive verweisen, das sich in der Bundesrepublik seitdem entwickelt hat. Ob es dazu kommen würde, war damals nicht entschieden.
SPIEGEL: Die Demokratie war Ende der sechziger Jahre bereits ziemlich gefestigt.
Biedenkopf: Der Wiederaufbau war gelungen. Das war die Leistung der Elterngeneration der 68er. Doch was sollte danach kommen? Wo sollten die produktiven Spannungen entstehen, die ein Land voranbringen? Die jungen Leute suchten nach neuen Zielen, und sie bekamen keine Antworten.
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DER SPIEGEL, 28.1.2008
3 Kommentare:
Ich kenne den Kontext dieses Posts nicht, also entschuldig meine Unwissenheit mal (und meinen schlechten Deutsch auch!). Was der Typ (weiss nicht wer ist er) sagt ist zwar interessant aber leider spricht er nur über den deutschen 68, was ist mit Frankreich, USA usw los? Der Verfall der Werten kann andererseits viel weiter zurückgedrungen werden. Diese letzten woche las ich Adornos "Dialektik der Aufklärung", wo er darüber spricht, und über die Wandlung der Werten unter die Deutscher und Amerikaner usw in der Vorkriegszeit. Und dies geht weiter (Ortega, natürlich Nietzsche...). Die strenge Schlussfolgerung davon würde dann sein, dank Sozialdeterminismus sind wir alle unschuldig, Verantwortlichkeit ist ein leeres Wort und we're all happy together, children of the sun. Very 68-spirit btw (check this Incredible String Band song where Hitler plays with Jesus like an innocent child, oh how beautiful).
Fernando
hallo fernando,
danke dass du dich auch für ältere blog-einträge interessierst. alles wichtige über kurt biedenkopf findest du bei wikipedia. biedenkopf hat direkt die deutsche studentenbewegung als universitäts-rektor miterlebt, war ein wichtiger konservativer politiker in westdeutschland und ist heute eine art elder statesman. das zitat aus dem spiegel-interview bestätigt meine auffassung, dass die meisten politiker erst nach dem ausscheiden aus politischen ämtern tatsächlich sagen, was sie denken und fehler zugeben. und das zitat ist auch ein tritt in die eier aller derjenigen aktiven fdp/cdu/csu-politiker und bild-chefredakteure, die immer noch - und gerade auch anlässlich des 40jährigen jubiläums der 68er bewegung - alles schlechte in deutschland den 68er in die schuhe schieben wollen.
interessanterweise gibt es im augenblick auch einen konflikt zwischen juristen und gehirnforschern, die behaupten, es gäbe so etwas wie den freien willen gar nicht, was dem strafrecht komplett den boden entziehen würde. ich finde diese diskussion sehr beängstigend. natürlich ist es ein unterschied, ob man den freien willen aus genetischen oder aus sozialdeterministischen gründen verneint, aber die konsequenz ist die gleiche: anhand des sozialen oder genetischen profil die menschen schon bevor sie eine straftat begangen haben wegsperren - guantanamo in potenz, freie gesellschaft ade.
Es ist bemerkenswert, dass wir dieselbe Sache unter entgegengesetzte Standpunkte betrachten: der Determinismus kann nämlich nach einer Gesellschaft a la "Minority report" führen oder auch nach der "Unschuldigkeit des Werdens", die Nietzsche wollte. (In diesem 2ten Sinn, vgl. was Adorno sagt in seinem Negative Dialektik -Kap. über die Freiheit- über das, was in der Nürembergen Prozesse geschah.) Eine Antinomie der Vernunft? hehe. Die Sache ist ja nicht leicht...
Danke für die Info über Biedenkopf (und ich weiss, dass ich seine Rede als eine Form des Sozialdeterminismus radikalisiert habe - er kann wohl aus anderer Perspektive Recht haben).
Danke auch für MonaMur, never heard of that either!
Saludos,
Fernando :)
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