...zufällige Gedanken zu verschiedenen Themen, die nicht nur mit Hannover, Musik, Punk, Politik zu tun haben ...
30.10.23
28.10.23
Wie der Punk nach Hannover kam
Klaus Abelmann, Detlef Max & Hollow Skai (Hrsg.) "Wie der Punk nach Hannover kam" (Hirnkost 2023)
Eine Kritik sollte, um für die Leser*innen nutzbar zu sein (im Sinne von lohnt sich eine Lektüre des Buchs für mich oder nicht?), den Standpunkt, vom dem aus die Kritik erfolgt, offen legen.
Die Idee, ein Buch über Punk in Hannover zu schreiben, geisterte schon länger in meinem Kopf herum, wobei mich immer wieder Selbstzweifel daran hinderte, wirklich mit so einem Projekt anzufangen, von wegen bin ich als "Person aus der zweiten Reihe" dazu geeignet oder überhaupt befugt? Jetzt gibt es dieses Buch "Wie der Punk nach Hannover kam", doch mein Bauch sagt mir: das kann es noch nicht gewesen sein, da fehlt doch so viel.
Nun ist es richtig , dass der/diejenige, die/der als erstes das Wort ergreift, die nachfolgende Diskussion bestimmt, mit allen Fehlern, Irrtümern und Auslassungen. Das ist eine Feststellung und kein Vorwurf an die Herausgeber, denn die Rahmenbedingungen, um nicht zu sagen Zwänge, die bei der Produktion von "Wie der Punk nach Hannover kam" offenbar zu berücksichtigen waren, sind deutlich erkennbar (ob die Zwänge selbstverschuldet sind vermag ich nicht zu sagen). Das beginnt bereits bei dem Titelbild, das eine klischeehafte Szene vor dem Hannoverschen Hauptbahnhof featuring Karl Nagel zeigt, die ich zeitlich zwischen 1982 und 1984 einsortieren würde, also lange Jahre nachdem Punk nach Hannover gekommen war und damit außerhalb des Fokus des Buchs (gleiches gilt für den Betrag Nagels zu dem Buch). Vielleicht war ein geeignetes Foto von 1978/79 nicht auffindbar, auf jeden Fall wäre es weniger medienwirksam gewesen, weil Punk damals einfach harmloser aussah.
Das Buch besteht aus den persönlichen Erzählungen verschiedener Protagoinist*innen, die ihre individuelle Beziehung zu Punk beschreiben. Das ist interessant zu lesen und natürlich erfährt auch der/die Zeitgenoss*in Details, die ihm/ihr vorher unbekannt waren, denn die Szene in Hannover war nicht einheitlich sondern eine Ansammlung verschiedener Cliquen (ist das nicht immer so?). Die Frage ist, ob die ausgewählten Protagonist*innen ein einigermaßen vollständiges oder ein eher einseitiges Bild liefern. Hier haben die Herausgeber erkennbar in ihrem Bekanntenkreis herumgefragt, es sind viele Musiker*innen dabei. Das ist m.E. ein Problem, weil Musiker*innen um ihre Leidenschaft umzusetzen ihr Leben relativ organisiert führen müssen. Andere Punks, die weniger kreativ waren und eher konsumierten (abhängen und Konzerte besuchen) haben andere Erinnerungen an diese Zeit. Allerdings sind diese Personen weniger bekannt, verschwanden oft aus der Szene ohne große Spuren zu hinterlassen, und sind daher heute schwer zu kontaktieren, unabhängig davon, ob sie ihre Erinnerungen preisgeben möchten. Diese Menschen zu finden erfordert Zeit und ich vermute die hatten die Herausgeber eher nicht. Und dann gibt es noch die Fanzine-Macher*innen, die als Beobachter*innen noch andere Erfahrungen gemacht haben.
Als ich von den Herausgebern für kleiner Beiträge (Discografie? Südstadt-Punx?) kontaktiert wurde stand bereits der Veröffentlichungstermin nebst Event fest. Ein solch enges zeitliches Korsett schränkt natürlich die Recherchemöglichkeiten ein und beeinflusst das Ergebnis, was aber den meisten Leser*innen (diejenigen, die damals nicht Teil der Szene waren, also 99,9% der Bundesbürger*innen) nicht auffallen dürfte. Und so gelangen Fehler, Irrtümer und Auslassungen (bei den Abbildungen der Hannover-Platten fehlen der KZ36-Sampler mit Blitzkrieg und Kondensators, der Into The Future-Sampler mit Hansaplast, die 1. Phosphor-Single, Kosmonautentraum, Klystron und Torture, die Unterrock-LP, die Ihmespatzen-Maxi, der Zu Gast Bei-Sampler und die Mäzen-Single, Musikkassetten werden gar nicht erwähnt) in die öffentliche Wahrnehmung. (Aber ist das nicht immer so bei Erinnerungen?)
Was leider fehlt in den Buch und damit verhindert, dass es ein Standardwerk werden könnte, ist die Analyse. Also nicht nur erzählen wie der Punk nach Hannover kam, sondern auch fragen warum er nach Hannover kam, was das besondere am Punk in Hannover im Vergleich zu anderen Städten war, vielleicht sogar zu fragen warum Punk überhaupt in Westdeutschland auf einen fruchtbaren Boden fiel, wo doch die ökonomischen und gesellschaftlichen Umstände andere waren als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten (eigentlich nur New York und Los Angeles) (und man könnte auch überlegen, warum Punk in der Schweiz früher einschlug und Österreich hinterherhinkte) (wobei die Fokussierung auf von Sex Pistols, Ramones usw. inspirierte Bands m.E. zu kurz greift, weil gleichzeitig zahlreiche andere Musikprojekte auftauchten, die inspiriert von der Energie des Punks ganz andere künstlerische Wege beschritten, was dann u.a. in der Neuen Deutschen Welle endete). Wie eine solche Analyse aussehen könnte kann man wunderbar in der Buchbesprechung von Hartmut El Kurdi in der taz vom 24.5.2023 nachlesen! Wobei ich den Blickwinkel weiter fassen würde, nämlich was neben der Musik noch für die Punkszene inspirierend war, z.B. Filme wie "Eraserhead" von David Lynch, "Brennende Langeweile" und "Punk in London" von Wolfgang Büld oder das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" von Christiane F. Es gab zudem in Hannover eine umfangreiche Szene von Fanzine-Machern (ich erinnere mich an keine Frauen, die Fanzines machten) (bei den abgebildeten Fanzines fehlen übrigens "Der 7. Wahn" und "AitL (Anarchy in the Literature)". Und was ist mit bildender Kunst (documenta 6)? Auch wäre es interessant, sich konkreter mit einzelnen Gruppen zu beschäftigen. Ich persönlich vermute, dass die Rolle von Hans-A-Plast für die Verbreitung von Punk in Deutschland komplett unterschätz wird, schließlich hatte die Band sich eine eigene PA angeschafft um überall auftreten zu können. Ich schätze Hans-A-Plast ist die Punkband mit den meisten Auftritten in Westdeutschland zur damaligen Zeit (die Düsseldorfer Kapellen kamen bis auf den Plan nie nach Hannover). Zudem ist das Aufblühen der westdeutschen Independent-Szene ohne No Fun Records mit der Verbindung zu Ton Steine Scherben und dem Boots-Plattenladen/-Vertrieb schlecht denkbar. Auch der Einfluss sexueller Minderheiten (Unterrock, Der Moderne Man) auf die Szene wäre interessant zu betrachten (wobei ich gar nicht weiß, ob Unterrock jemals aufgetreten sind).
"Wie der Punk nach Hannover kam" ist eine Ergänzung zu Jürgen Teipels "Verschwende deine Jugend", der ja Hannover in seiner "Geschichtsschreibung" über Punk in Westdeutschland komplett unterschlagen hat (ich kenne die erweiterte Fassung noch nicht - und wann soll ich das alles überhaupt lesen), geht aber inhaltlich über das Erzählen von damals nicht hinaus. Das Thema ist also noch nicht abgeschlossen.
26.10.23
Hamburg Calling. Punk, Underground & Avantgarde 1977-1985
Alf Burchardt & Bernd Jonkmanns "Hamburg Calling. Punk, Underground & Avantgarde 1977-1985" (Junius 2020)
Hamburg Calling - Punk, Underground & Avantgarde 1977-1985 - ist zu aller erst ein Bilderbuch, das von den Fotografien von Sabine Schwabroth und Ilse Ruppert lebt (trotzdem stehen ihre Namen nicht auf dem Einband). Ihre damalige Anwesenheit sind ein Glücksfall der Geschichtsschreibung, die diese Sammlung von Tickets, Postern, Fanzines und Plattencovern auf ein anderes Niveau hebt (so wie es ein Glück war, dass der Generation X-Bassist Tony James in der Nähe eines Videorecorders war, als Steve Jones Bill Grundy einen Dirty Fucker nannte). Fotos zeigen wie die Menschen damals wirklich waren jenseits aller später aufgekommenen Vorurteile und Klischees. Als Kontext dienen Kurzinterviews mit Protagonist*innen aus der damaligen Zeit wie Alfred Hilsberg, Jackie Eldorado, Mike Stanger (Buttocks) und Eugen Honold (Pretty Vacant Fanzine), Klaus Maeck, Frank Z (Abwärts), Andreas Dorau, Timo Blunck (Palais Schaumburg), Anja Huwe (Xmal Deutschlnad), Michael Ruff, Mona Mur, Clemens Grün und Clemens Gestler (Club-Betreiber), Christian Henjes (Beauty Contest), Schorsch Kamerun (Goldene Zitronen) und Bernd Begemann (Die Antwort). Die Interviews sind okay aber nicht sehr tiefgehend, der Mythos von Hamburg als Punk-Hochburg wird hier eher nicht bedient, der Schwerpunkt liegt vielmehr auf dem, was später in der Neuen Deutschen Welle unter de Räder kam. Insgesamt ein schönes und auch liebevolles Erinnerungswerk, aber der Erkenntnisgewinn ist eher beschränkt.
24.10.23
Sun Fun
Sun Fun (Komponist: Walter Faber, Text: Peter Powalla, Gesang: Minerva Daly) / Keep Cool (Komponist: Petrik/Thorsten, Text: Bob Burrows, Gesang: Minerva Daly "Orange")
Eine Peter Powalla Production
3000 Hannover-Kleefeld, Mellendorfer Str. 2, Telefon (0511) 537700 (download)
22.10.23
Storemage
Happy Day (Remix) (music by Storemage, words by Kürsche) / Jingle - Happy Day (music by Storemage, words by Kürsche) from the album Skibbereen Dance, produced by Mick Franke, published by Apefruit
Happy Valley Records! Brückenstr. 8 4504 Georgmarienhütte Tel. 05401-41334 (download)
20.10.23
Staccato
Support The Post (Staccato '89) / Uppermost (Staccato '89)
Patrick Arnecke Gitarre / Udo Kämmer Bass / Jeanette Gesang / Norbert Huth Schlagzeug / Falko Krey Keyboards
Text/Musik Staccato / Aufnahme 1989 Roxxon Studio / Grafik Kerstin Völker / Kontakt Udo Kämmer, Alte Rathausstr. 7A, 3014 Laatzen, Tel.: 0511-873587, 0511-871723 (download)
18.10.23
16.10.23
Punk Rock oder: Der vermarktete Aufruhr
Rolf Lindner (Hrsg.) - Punk Rock oder: Der vermarktete Aufruhr (1978, Verlag Freie Gesellschaft, 96 Seiten, damals 6,80 DM, heute nur noch antiquarisch)
Erklärungsversuche, was Punk ist, gibt es viele. Dies ist vermutlich der erste westdeutsche Versuch in Buchform, 1978 herausgegeben vom Soziologen Rolf Lindner, heute Professor im Ruhestand, mit einem Vorwort von Udo ("Im Ursprung finde ich punk sehr gut. Aber die Entwicklung im Punk finde ich ganz gefährlich.") Lindenberg. Der schmale Band enthält Übersetzungen englischer Texte - zum Teil älteren Datums - über "klassenspezifische Rockbedürfnisse" und "Arbeitslosen-Rock", zu Rock Against Racism, über die Sex Pistols, Clash, Punk und Reggae, dazu Auszüge aus englischen Fanzines und aus deutschen Medien, u.a. von Alfred Hilsberg. Lindners Analyse hangelt sich entlang an Fragen der Darstellung von Punk in der Presse und deren Wirkung auf Jugendliche, an Punk als politische Haltung, als Hard Rock-Revival und als Kommerz. Klar benennt Lindner, dass das Bild von Punk in Deutschland zuerst von den Medien geprägt wurde, unter anderem vom Spiegel mit seiner Titelstory "Punk - Kultur aus den Slums: brutal und häßlich", in dem die modischen Extreme zum Normalfall erklärt wurden. Die Folge war, daß die ersten deutschen Punks versuchten, diesem Bild zu entsprechen und zu Auftritten von ebenfalls dieses verzerrte Bild reproduzierenden Bands wie Straßenjungs und Big Balls And The Great White Idiot in ebensolcher Maskerade auftauchten, während Johnny Rotten wegen seines "normalen" Aussehens als Punk in Frage gestellt wurde. Ebenso erteilt Lindner dem Versuch, Punk politisch links oder rechts einzusortieren, eine Absage, weil diese Versuche unter dem fehlenden Zugang zur Erfahrungswelt und den Interessen der Punks leiden würden. Daß die Selbststilisierung der Punks als Proletarier oft nur Fassade ist arbeitet Lindner ebenso heraus wie daß die musikalischem Wurzeln des Punk in der Ablehnung des abgehobenen Rockadels und von überzogenen Virtuosentum liegen. Und er kommt zu der interessanten These, daß Punk eigentlich nur live authentisch ist und die Kommerzialisierung bereits mit der Konservierung der Musik auf Schallplatte begann. Wer sich für die Wurzeln von Punk in Westdeutschland interessiert findet hier eine interessante Materialsammlung.
(Es würde sich lohnen, dem langfristigen Einfluss dieser verzerrten Berichterstattung auf die deutsche Punkszene nachzuspüren, ebenso wie Punk trotz völlig anderer sozialer und ökonomischer Umstände als in England in Westdeutschland zur einflußreichen Jugendkultur werden konnte.)
Rezension zuerst erschienen im OX April 2019
Siehe auch: Rolf Lindner ist der erste deutsche Punkbuchautor. Wir haben ihn interviewt.
14.10.23
Der große Schwindel??? Punk-New Wave-Neue Welle
Jürgen Stark, Michael Kurzawa - "Der große Schwindel??? Punk-New Wave-Neue Welle" (1981, Verlag Freie Gesellschaft, 288 Seiten, damals 19,80 DM, heute nur noch antiquarisch)
Im Sommer 1981 erschien diese erste Übersicht über die blühende irgendwie Punk/Neue Welle-Szene in Westdeutschland, zusammengestellt von Michael "Kurzumzappa", Gitarrist der Berliner Kapelle Z, sowie Jürgen Stark, Journalist und später Autor einiger Bücher zur Popmusik. Überspringen wir die ersten 60 Seiten zur Geschichte der Rockmusik und von Punk in England und beginnen gleich mit den Städteberichten über Berlin, Hamburg und (nein, nicht Düsseldorf, sondern) Frankfurt. Aus Berlin kommen zu Wort Jürgen, der erste Schlagzeuger von PVC, dem es egal ist, ob man ihre Musik als Punk oder Rock'n'Roll bezeichnet, danach die DIN-A-Testbild-Mitglieder Mark 1 und Jürgen, die ihr musikalisches Konzept mit dem von Free-Jazzern vergleichen. Der Engländer David McCormack, Sänger von Z, findet die Berliner Szene sehr aufgesetzt und mag die Kreuzberger Punk-Szene, aber nicht deren Ablehnung von Erfolgstreben. Zuletzt kommt Andreas Heske von der Betoncombo zu Wort kommt, der hier von den Unterschieden zwischen Kreuzberg und Gropiusstadt berichtet, sowie vom Auf- und Abstieg des KZ36. Das Hamburg-Kapitel beginnt mit einem Interview der Grund-Brüder von Big Balls And The Great White Idiot, danach kommt Mike von den Buttocks zu Wort, der am liebsten die deutsche Staatsbürgerschaft ablegen würde. Zum Schluß plaudern Alfred Hilsberg, Klaus Maeck und Jacky Eldorado aus vielen Nähkästchen wie den Kämpfen in der SoundS-Redaktion und um ihren Plattenladen. Das Frankfurt-Kapitel besteht im wesentlichen aus einem Interview mit der Band Straßenjungs, die von der Zeit nach ihrer ersten LP bei CBS (übrigens verbrochen von Axel Klopproge, der später Markus von Nylon Euter zur NDW-Eintagsfliege aufbaute) berichten. Es folgen kurze Kapitel über Hannover, Düsseldorf und das Ruhrgebiet, sowie ein Streifzug durch das restliche Westdeutschland von Kiel bis München, wo viele Namen auftauchen, die kaum Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen haben. Schon aus diesem Grund ist das Buch wichtig, welches noch einmal das zusammenbringt, was damals von Punk angestoßen wurde und bereits in alle Himmelsrichtungen auseinander strebte.
Rezension zuerst erschienen im OX Juni 2019
12.10.23
Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt
Bernd Hahn, Holger Schindler - "Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt" (1983, Buntbuch-Verlag Hamburg, 240 Seiten, 19,80 DM, heute nur noch antiquarisch)
Auf den ersten Blick fällt die Gestaltung dieses Buches auf: chaotisch, Buchstaben- und Bildschnipsel, Collagen aus Text und Grafik, so sahen viele Fanzines damals Anfang der 1980er Jahre aus - und "Punk. Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung" von Hollow Skai. Der war dann auch damals ziemlich angepisst, als er das Buch in seine Hände bekam, und meinte, die beiden Autoren hätten ihm das Layout aus seinem eigenen Buch geklaut. Nun, ich würde von sehr starker Inspiration sprechen. Im Mittelteil des Buchs versuchen Hahn und Schindler eine Art Fanzine zusammenzukleben, aber die Auswahl ihrer Themen und Bilder ist eine andere als die der Punks der damaligen Zeit, insbesondere fehlen jegliche eigenen Bildquellen wie Konzertfotos oder eigene Zeichnungen. An einer Stelle geben sie selbst zu, dass ihnen die Verbindungen um an solches Material heranzukommen einfach fehlen würden. Das liegt auch an ihrem Hintergrund, sie kommen aus der Musikerszene vor Punk, teilweise mit Jazz Rock-Erfahrung. Sie stehen so für denjenigen Teile der westdeutschen Jugendkultur der 1970er Jahre, denen die Sinnhaftigkeit ihres bisherigen Lebensziel abhanden gekommen war und die sich nun von Punk ein neues Leben erhofften. Sie übernahmen die neue Ästhetik und landeten damit oft in der NDW, doch blieben sie oft nur Imitatoren, weil sie die Wurzeln des neuen Lebensgefühls nicht verstanden. Und so ist auch dieses Buch nur Imitation von Punk und Neue Welle. Hahn und Schindler erklären Punk nicht selbst sondern schreiben nur aus anderen Büchern und Zeitschriften wie SoundS ab, dazu das Lebensgefühl und die Beschreibung der politischen Lage in Westdeutschland aus der taz, und so weiter. Außer in den eigenen biografischen Texten enthält das Buch keinen eigenständigen Gedanken, noch nicht einmal ein Konzept - halt, am Ende gibt es ein paar Seiten für Lehrer*innen über Subkulturtheorie - oder einen roten Faden. Ein Buch von Außenseitern, die behaupten Teil der Szene zu sein. Ein Buch als Dokument des eigenen Scheiterns, was okay wäre, würden die Autoren es auch selbst bemerken, was Hahn und Schindler aber nicht tun.
Rezension zuerst erschienen im OX August 2019)
Das Argument 143: Hahn, Bemd, und Holger Schindler: Punk - die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt. Buntbuch Verlag, Hamburg 1983 (240 S., br., 19,80 DM) Die Ironie, die im Titel durchscheint, ist Bestandteil sowohl des Punk wie dieser Untersuchung über Punk. Eine Lehrer-Kollegin schrieb mir nach der Lektüre, das Buch habe ihren Begriff von Punk"dynamisch erweitert". Ich vermute, das konnte sie nur feststellen, weil nicht nur der Punk - als kulturelles, d.h. politisches und musikalisches Phänomen - in seiner ganzen Dynamik deutlich wird, sondern sich das auch in einer ungemein dynamischen Darstellungsweise ausdrückt. Darunter leidet zwangsläufig die Wissenschaftlichkeit, aber darum geht es den Autoren auch gar nicht. Im Gegenteil:"Um dem Thema 'Punk' gerecht zu werden, haben wir eine Darstellungsweise gewählt, die den untersuchten Gegenstand nicht akademisch steif, systematisch und langweilig abhandelt, sondern ihn durch eine adäquate grafische und literarische Technik zu veranschaulichen und zu analysieren sucht."(6) Die Stärke ist zugleich die Gefahr des Buches: Ohne kritische Distanz, ohne vorgefertigte Schemen und Kriterien wird nachvollzogen, beschrieben, zugeordnet und bewertet - orientiert an eigenen Erfahrungen. Wo die Autoren Hinweise auf wissenschaftliches Herangehen geben, werden ihre Ausführungen oberflächlich und gehen keinen Schritt über Bekanntes zur Subkulturforschung (R. Schwendter, G. Kurz) hinaus (201ff.). Um Punk zu verstehen, gehen die Autoren auf die Ursprünge zurück und schildern die Londoner Underground-Scene des Jahres Hier wie auch in anderen Kapiteln geraten die soziologischen Zusammenhänge stets etwas eindimensional, wenn es z.b. heißt:"punk - das war das Spiegelbild ihrer Lebenssituation, die geprägt war/ist von fortschreitender Jugendarbeitslosigkeit, Zunahme staatlicher Repression in nahezu allen Bereichen, von der Langeweile, die der Isolation und Monotonie moderner Schlafstädte entspringt..."(20) Natürlich ist das nicht falsch, aber die Aneinanderreihung von weder begründeten noch problematisierten Ursachenfeldern ersetzt hier das mühsame Geschäft der Analyse. Die Ausführungen zu den musikalischen Mitteln, den textlichen Qualitäten und aggressiven Repräsentationsformen sind dagegen überzeugend und hautnah. Nach einem Rückblick auf die Subkultur der 50er Jahre (52ff.), auf eigene musikalische Versuche in den 60er und 70er Jahren (60ff.) werden die wichtigsten deutschen Gruppen sachkundig skizziert und kritisch bewertet (69ff.) sowie die Vermarktung der subkulturellen Impulse durch Mode- und Musikbranchen nachgezeichnet. War Punk einmal anti-kommerziell und auf einen Kunstbegriff aus, der die etablierte Opern-Elite Kunst überwinden wollte ("Punk spielen kann jeder. Punk ist ein Lebensgefühl", 77), so ist die daraus hervorgegangene sogenannte Neue Deutsche Welle"voll in industrieller Hand. Sie ist ein germanischer Industriezweig"(78). Wichtige Hintergrundinformationen liefert ein Exkurs über"elektronik und Musik"(107ff.). Dem technisch wenig Versierten wird hier ein Grundkurs in den musikalischen Möglichkeiten des Computer-Zeitalters vermittelt. Das Kapitel über"fanzines", die wichtigsten schriftlichen Mitteilungsformen der Punk-Scene, gibt auch Auskunft über die Produktionsweise des Heftes (l5lff.). Das Buch wird zunehmend selbst zum"fanzine", die Beschreibung des"chaos"wird durch ein neues"chaos"aus Songtexten, Bildern, Sprüchen usw. vorgenommen. Über weite Strecken ist das Buch eine Fundgrube von authentischen Ideen und Plattheiten. Wer auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung des Phänomens Punk zwischen Subversivität und Kommerz ist, muß zwischen den Zeilen lesen und den Wust von Material zu einem eigenen Gebäude ordnen können. Frank Dietschreit (Hamburg)
10.10.23
Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977 - '82
Ulrike Groos, Peter Gorschlüter, Jürgen Teipel - "Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977 - '82" (2002, Verlag der Buchhandlung Walter König, 200 Seiten, damals 19,- Euro, heute nur noch antiquarisch)
Wer damals die Ausstellung "Zurück zum Beton" in der Kunsthalle Düsseldorf gesehen hatte, für den war dieser Katalog ein Pflichtkauf, da er vieles von den Mängeln der Ausstellung ausbügelte. Nach dem überraschenden Erfolg von Teipels Doku-Roman "Verschwende deine Jugend" wurde diese Ausstellung aus dem Boden gestampft, weshalb ausführliche Recherchen z.B. zur Herkunft von Fanzines zu kurz kamen. Das setzt sich leider im Katalog fort u.a. mit deutlichen Lücken in Diskografie und Literaturverzeichnis, als ob Punk und New Wave nicht auch außerhalb des Dreiecks Berlin - Düsseldorf - Hamburg stattgefunden hätten. Zum Glück sind die Textbeiträge deutlich besser. So steuerte Peter Glaser einen schönen Text über "Punk und Sprache" bei und findet allerlei Literarisches bei Punk, auch wenn Literatur damals verpönt war. Glaser schafft es, seine Erinnerungen in klare, verständliche Worte und Analysen zu fassen. Diedrich Diederichsen türmt wieder Theoriebrocken übereinander, einigermaßen verständlich und gelegentlich sogar anregend, während sein Bruder Ewald Braunsteiner zeigt, dass Punk am Anfang eben kein ästhetisches Gesamtkonzept hatte, sondern eine Sammlung verschiedener Antihaltungen war, etwas, dass die Deutschpunkgeneration später gerne unter den Tisch gefallen lassen hätte. Das als "Punkmemory" betitelte Gespräch von 7 Altpunks belegt, dass die Hamburger wirklich anders tickten als die Rheinländer und die Wurzeln von Deutschpunk eher im Norden als im Ruhrgebiet zu finden sind, auch wenn man Hamburg wirklich nicht dafür verantwortlich machen kann. Justin Hoffmann von FSK untermauert seine Gedanken über Punk und DIY mit zahlreichen Belegen, die zeigen dass was uns heute selbstverständlich erscheint wie z.B. elektronische Popmusik tatsächlich seine Wurzeln in Punk und NDW hat. Am Ende hat sich Ulf Poschardt schließlich der undankbaren Aufgabe angenommen, die Spuren von Punk im kulturellen Mainstream zu suchen, womit er sicher so manchem gewaltig auf die Füße trat. Sein Fazit, dass Punk als unfreiwilliger Marsch durch die Institutionen im Mainstream angekommen sei, hat Poschardt inzwischen für sich selbst umgesetzt.
Rezension zuerst erschienen im OX Oktober 2019
8.10.23
Punks in der Großstadt Punks in der Provinz
Bruno Hefeneger, Gerd Stüwe, Georg Weigel - "Punks in der Großstadt Punks in der Provinz" (1993, Leske + Budrich, Opladen, 124 Seiten, damals DM 19,80, als Neuauflage für € 54,99)
And now for something completely different, ein Blick von außen auf Punk, hier in Form zweier Berichte über soziale Projekte mit Punks Ende der 1980er Jahre in Frankfurt/Main und Fulda. Das Buch ist von dem Wissenschaftliche-Literatur-Konzern Springer für einen exorbitanten Preis neu aufgelegt worden, die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung erschließt sich mir aber nicht recht. Denn viele der dort beschriebenen Verhaltensweisen von Punks stehen in direkten Zusammenhang mit den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen, die heute so nicht mehr existieren. Beobachtungen wie dass die Punks die Verachtung der Umwelt als "negative Zuwendung" umdeuten und zur Stützung ihrer eigenen Identität brauchen sind historisch korrekt, aber in der heutigen Anything-Goes-Gesellschaft nicht mehr aktuell. Aber als Reflexion über die Zeit von vor 30 Jahren und Punk an sich bietet das Buch insbesondere in den theoretischen Passagen jede Menge Material. So überraschen die Autoren mit der These, dass Punk jugendkulturell konservativ, ein "Fossil vergangener Zeiten" sei, weil Punk eine "umfassende Lebenshaltung" propagiere, "der bestimmte Werte und Normen zugeordnet sind und über die nahezu alle Lebensbereiche definiert werden" - im Gegensatz zu dem nachfolgenden Jugendtypen der "Postmoderne", die nur an individueller Selbstdarstellung interessiert seien, aber nicht mehr auf der Suche nach personalen und gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten oder einem gemeinsamen Lebensgefühl. Dem würde ich entgegenhalten wollen, dass Punk im Gegensatz zu den älteren Jugendkulturen nie eine positive Gruppenidentität entwickelt hat, sondern sich immer in Abgrenzung zu anderen definiert hat. Das ermöglicht(e) eine ständige Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit über Jahre hinweg und somit die lang anhaltende Aktualität von Punk im Gegensatz zu Jugendkulturen wie Mods, Hippies, Psychobillies oder Bikern. Ob diese Einmaligkeit angesichts der massiven Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den letzten 30 Jahren noch existiert bleibt zu diskutieren. Ein historisch interessantes Buch, aber der Nutzen für die heutige Zeit ist begrenzt.
Rezension zuerst erschienen im OX Oktober 2019 - eine ausführliche Rezension erschienen in TESTCARD 3/1996 - Sound, S.30ff.)
6.10.23
Aus dem Schrank geholt
Eines meiner bisher nicht realisierten Projekte ist eine kommentierte deutsche Punk-Bibliographie, also eine Liste aller deutschen Bücher, die etwas mit Punk zu tun haben (hallo einfache Sprache), besprochen von mir (oder anderen?). 5 dieser Besprechungen erschienen zwischen April und Dezember 2019 im OX in der Kolumne "Aus dem Schrank geholt" ("Punk Rock oder: Der vermarktete Aufruhr" von Rolf Lindner, "Der große Schwindel??? Punk-New Wave-Neue Welle" von Jürgen Stark und Michael Kurzawa, "Punk. Die zarteste Versuchung seit es Schokolade gibt" von Bernd Hahn und Holger Schindler, "Zurück zum Beton. Die Anfänge von Punk und New Wave in Deutschland 1977-'82", herausgegeben von Ulrike Groos, Peter Gorschlüter und Jürgen Teipel, sowie "Punks in der Großstadt Punks in der Provinz" von Bruno Hefeneger, Gerd Stüwe und Georg Weigel).
Weitere Besprechungen hatte ich angedacht zu "Wir waren Helden für einen Tag - aus deutschsprachigen Fanzines 1977-1981" von Paul Ott und Hollow Skai (siehe unten), "Die heiligen Narren: Punk 1976-1986" von Thomas Lau, "Auch im Osten trägt man Westen. Punks in der DDR - und was aus ihnen geworden ist" von Gilbert Furian und Nikolaus Beckeron, "Guter Abzug" von Richard Gleim, Susanne Wiegand und Peter Glaser, "Mode & Verzweiflung" von Thomas Meinecke, "Folta für John Travolta" von Franz Hermann Reischl, "Kunst <=> Musik. Deutscher Punk und New Wave in der Nachbarschaft von Joseph Beuys" von Thomas Groetz, "Kleenex/LiLiPUT - Das Tagebuch der Gitarristin Marlene Marder", sowie "Hot Love - Swiss Punk & Wave 1976-1980", herausgegeben von Lurker Grand. Auch eine Besprechung des SPIEGEL-Artikels "PUNK - Kultur aus den Slums: brutal und hässlich" vom 23.1.1978 hatte ich angedacht (siehe unten).
In die Bibliographie gehören natürlich auch "Punk. Was uns kaputtmacht, was uns anmacht" von Klaus Dewes und "Last Exit. Punk: Leben im toten Herz der Städte" von Poris Penth und Günter Franzen, beide bereits 2016/2017 im OX besprochen (zusammen mit "Verschwende deine Jugend" von Jürgen Teipel, "Punk - Versuch der künstlerischen Realisierung einer neuen Lebenshaltung" von Hollow Skai, sowie dem "Punk Lexikon" von Christian Graf, um ein paar der Bücher zu erwähnen). Etwas über den Tellerrand geblickt hätte ich dann mit "Rockmusik und Gruppenprozesse. Aufstieg und Abstieg der Petards" von Florian Tennstedt, sowie als Witz eine Rezension über ein fiktives Buch mit dem Thema, dass Punk heute nicht mehr möglich ist, geschrieben. Das Buch hätte aus dem Nachlass eines verstorbenen Rechtsanwalts gestammt (Todesursache vermutlich Krebs), der innerlich Punk war, aber damals nie so aussah und nach eigener Beschreibung 1980 "falsch abgebogen" war (Richtung Post-Punk statt Deutsch-Punk). Titel hätte "No Future" sein können, erschienen im Eigenverlag (um mögliche Spuren zu verwischen, auch wenn das heute wohl nicht möglich wäre), Titelbild angelehnt an die selbstverlegte Essay-Sammlung von Reinhard Weber.
Paul Ott, Hollow Skai - "Wir waren Helden für einen Tag. Aus deutschsprachigen Punk-Fanzines 1977-1981" (1983, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 268 Seiten, 10,80 DM, heute nur noch antiquarisch)
Vorab ein Geständnis: wer die Fanzines "Fuck Erzbischoff Ratzinger" aus Freising oder "The Inzest" aus Bayreuth sucht, kann mit der Suche aufhören, die beiden Titel habe ich mir damals, als ich für Hollow Skai eine Liste aller mir bekannter Fanzines zusammenstellte, einfach ausgedacht. Das eine war die Anschrift meiner Großmutter mütterlicherseits, das anders die Tankstelle gegenüber dem Elternhaus meines Vaters. Aber wer sollte das damals überprüfen? "Wir waren Helden für einen Tag" ist eine sehr subjektive Auswahl von Texten aus schweizer und westdeutschen Fanzines - (Textfragment vom August 2019)
Unbekannte Autoren - "Punk - Kultur aus den Slums: brutal und hässlich" (DER SPIEGEL Nr.4/1978 vom 23.1.78, damals 2,50 DM, heute https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/40694217)
Dass DER SPIEGEL es nicht immer so genau mit der Wahrheit nimmt wissen wir spätestens seit dem Fall Claas Relotius, ebenso dass DER SPIEGEL ein Paradebeispiel ist für die deutsche Journalistenkrankheit, Nachricht und Meinung nicht sauber auseinander zu halten. Das war schon immer so und ein Beispiel dafür ist die Titelgeschichte über Punk vom Januar 1978, die das Image von Punk in den deutschen Medien in der Folgezeit geprägt hat (hatte doch die HÖRZU noch im Jahr zuvor einen Artikel mit "Keine Angst vorm bösen Punk" überschrieben). Die SPIEGEL-Story beginnt mit einer Konzertbeschreibung, die aus Gideon Sams Novelle "The Punk" abgeschrieben ist (nachzulesen in Rocksession Nr.3, rororo 1978), was erst nach mehreren Absätzen aufgeklärt wird. Der Artikel strotz von Ungenauigkeiten - so wird Jackie Eldorado als Johnny Eldorado vorgestellt, The Clash als "Die Zertrümmerer" übersetzt - (Textfragment vom Dezember 2019)