10.3.07

Ununterbrochen unterbrochen

"Was macht die Zeit, wenn sie vergeht?", wollte Albert Einstein gleichsam poetisch wissen. Die Zeit vergeht eigentlich gar nicht. Das ist ein viel zu epischer Ausdruck. Sie wird vielmehr zerbrochen durch Unterbrechungen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Büromensch spätestens alle elf Minuten nachhaltig unterbrochen wird, wenn er an etwas arbeitet. Ist die Unterbrechung vorbei, macht er erst etwas anderes, ehe er wieder an seine Aufgabe geht, wobei es dann im Schnitt acht Minuten dauert, ehe er in der Arbeit wieder richtig drin ist. Kein Wunder, dass es mit dem Aufschwung so langsam geht.

Jean Jacques Rousseau lebte vor der Erfindung von Telefon, Handy und e-mail. Er musste nach Tisch zwei Stunden laufen, um einen Brief aufzugeben und hernach wieder zwei Stunden zurück. Sein Werk umfasst mehr als 12 000 Seiten. Bei Leibniz sind es noch viel mehr. Beide konnten ihre gewaltigen Werke nur schreiben, weil sie noch in einer Bastion von Unerreichbarkeit lebten. Heute schafften sie im Zeitalter des Kurzdenkens allenfalls Kurzschriften, weil sie ununterbrochen unterbrochen würden. Botho Strauß hat schon vor einem Jahrzehnt in "Paare, Passanten" vermutet, dass die Weltliteratur nur entstehen konnte in jener heute schon vergessenen vortechnisierten Welt. Sentimentalität ist sicher falsch. Aber hat die "Zeit" nicht auch recht, wenn sie schreibt: "Das zersplitterte Bewusstsein der Unterbrochenen ist die herrschende Geisteshaltung unserer Zivilisation."?

Die heutige sozial vermittelte Aneignung des Lebens - alle Aneignung des Lebens ist sozial vermittelt, wie uns Susan Sonntag gelehrt hat - ist die Erziehung zum Kurzdenken. Kurz denken, schnell und kurz schreiben. Das ist nicht nur schnell unhöflich, wie Fontane schon wusste, sondern auch schnell simpel, oberflächlich und falsch. Die Überinstrumentarisierung unserer Kommunikation mit e-Mail und Handy hat nicht nur die Schlagzahl von Kontakten, sondern auch die Schlagzahl des Zwangs zur schnellen Antwort erhöht, begleitet vom Fluch der unentrinnbaren Erreichbarkeit durch das Handy. Die wundervollen Kommunikationsmöglichkeiten unserer Tage führen zu einer Entwertung unserer Lebensqualität durch zu hohe Multiplizierung. Weniger wäre manchmal mehr. Der Stress unseres Jahrhunderts ist das Leiden an der Multiplikation der Erwartungen durch schnelle Kommunikation und an unserer fehlenden Zeit zu ihrer Erfüllung.

Das meiste Geld lässt sich heute mit Seminaren über Zeitmanagement verdienen und mit der Beratung von Unternehmen darin, wie die Führungsleute Zeit zum Nachdenken bekommen, weil am teuersten kommt, was nicht zu Ende gedacht ist. Die Technik wird immer perfekter, schneller, kleiner, billiger. Die Schwachstelle in der Kommunikation ist allein der Mensch, der an einen Punkt kommt, an dem er nicht mehr mehr und schneller kommunizieren kann. Erfolgreiche Kommunikationstechnologie der Zukunft wird deshalb jene sein, die das technisch Machbare auf das dem Menschen Mögliche spezifiziert. Alles andere wird nicht weiter zu einer Humanisierung des Lebens und einer effizienteren Arbeitswelt führen, sondern in das Gegenteil umschlagen.

vG

gefunden in: Rundblick Nord-Report, Jahrgang 2007/Nr. 044, 7. März 2007, Drei Quellen-Verlag, Hannover

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