15.12.23

Wir sind die Türken von morgen

Ulrich Gutmair „Wir sind die Türken von morgen. Neue Welle, neues Deutschland“ (Tropen, 2023)

Wer die Leseprobe des Verlags im Internet liest, könnte einen etwas falschen Eindruck von dem Buch erhalten. Es geht dem Autor keineswegs darum, die Geschichte der ndW neu zu erzählen. Vielmehr nimmt er den Text von "Kebaträume" bzw. "Militürk" von Gabi Delgado-Lopez als Ausgangspunkt für verschiedene Überlegungen im Zusammenhang mit den einzelnen Textzeilen. So wird das Wort "Türken" als Ausgangspunkt zur Diskussion des Verhältnisses von Gastarbeiter*innen und Deutschen begriffen und ob sich es überhaupt einen migrantischen Einfluss auf die ndW gab. Neben DAF und der Limburger Kapelle Wirtschaftswunder mit dem Italiener Angelo Galizia am Gesang findet auch der Titel "Ask, Mark ve Ölüm" von Ideal Erwähnung, aber das war es dann schon, wie überhaupt die Kultur, die die Gastarbeiter*innen mitbrachten, von den Deutschen ignoriert wurde (dazu lief vor kurzem die schöne Fernsehdokumentation "Songs of Gastarbeiter") außer für rührselige Schlager wie "Griechischer Wein" von Udo Jürgens. Dabei machte die Kölner Plattenfirma Türküola gigantische Umsätze mit Musik von und für türkische Migrant*innen. In den westdeutschen Medien wurde aber die Angst vor den Türken und Angst vor dem Verlust "deutscher" Identität geschürt, was Gutmair zu längeren Ausführen über die Herkunft des Begriffs der Identität und seine Problematik nutzt. Um dann irritiert auf die Hannoveraner Kapelle Deutschland zu stoßen und sich von ihrem Bassisten Andreas Pessel erklären zu lassen, was alles an dem historischen Artikel "Alles, was Sie schon immer über Punk wissen wollten (But Were Afraid to Ask)" von Klaus Abelmann journalistische Übertreibung ist. Dann ist Gutmaier plötzlich bei den "Wilden Cliquen" in Berlin der 1930er Jahre und es wird klar, dass dem Buch der rote Faden fehlt, der die Themen Kultur der Gastarbeiter*innen, weibliche Emanzipation, Homosexualität (Gutmair erwähnt die Cretins, aber nicht Der Moderne Man) deutsche Vergangenheit und Identität zusammenhält. Es bleibt unklar, was uns der Autor mit dieser Materialsammlung sagen will.

Tatsächlich ist dies kein Buch über Punk oder die originale NdW, dies ist ein Buch über den Songtext "Kebabträume" und was mensch alles in ihn hineinlesen oder aus ihm herausholen kann. Das ist überwiegend interessant, aber es ist nicht das Buch, was ich mir gewünscht hätte. Ich war vor einigen Jahren bei einer Lesung/Vortrag von Wolfgang Seidel zu seinem Buch "Wie müssen hier raus!", im dem er den ursprünglichen Impuls des Krautrock, insbesondere die englischen Texte und die Elektronik, als bewussten Reflex, als Ablehnung gegenüber der damaligen herrschenden Massenkultur (Heimat, Schlager usw.) deutet. Und genau so ein Reflex ist die westdeutsche Interpretation der Punk-Idee und der originalen ndW gegenüber der (west)deutschen Massenkultur der 1970er Jahre einschließlich der versteinerten Hippies. Deshalb deutsche statt englischer Texte, deshalb Punk statt akustischer Gitarren, deshalb Körpermusik statt kosmischer Kuriere. Es ist die Weigerung, sich zwischen BRD und RAF zu entscheiden, und diese Weigerung eröffnete ein weites neues Feld an Ausdrucksformen, von dem die von Gutmair angesprochenen Themen nur ein Teil sind, wenn auch ein wichtiger.

PS: Es gibt zu dem Buch eine Spotify-Playlist, der ebenso wie dem Buch ein roter Faden fehlt. Laut Spotify sind die Titel "Das quietschende Bett" und "S-Bahn" von Östro 430 sowie "Dachau-Disco" von The Cretins "unangemessen", was immer das bedeuten mag, zumal "Sexueller Notstand" von Östro 430 und "Samen im Darm" von The Cretins nicht in den Genuss dieses Prädikats kommen, ebenso wenig wie "Das Lied der Deutschen" von Nico.

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