Wer glaubt in dieser 3-teiligen Dokumentation (Die Pioniere/Der Hype/Der Overkill) eine schlüssige Erklärung zum Thema Neue Deutsche Welle zu bekommen kennt das ZDF nicht – oder liegt es daran, dass ich diese Zeit selbst erlebt habe und mir daher ein eigenes Urteil erlauben kann? Die Autorinnen (ohne Gendersternchen) haben diese Musik in ihrer Jugend in den frühen 1980er Jahren an diversen Orten der DDR miterlebt (siehe https://presseportal.zdf.de/wissenswert/neue-deutsche-welle), was das Auftauchen von Namenlos, Pankow und Juckreiz erklärt, aber trotzdem nicht entschuldigt, in der ersten Folge Filmaufnahmen von zwischen 1977 und 1983 wild durcheinander zu würfeln, um Punk zu illustrieren. Punk hat in dieser Zeit zahlreiche optische Veränderungen durchgemacht, weshalb falschen Zeitpunkten zugeordnete Bilder die historische Entwicklung auf den Kopf stellen. Auch ist unklar, ob die Aufnahmen aus England oder Westdeutschland stammen. Wenn es kein adäquates Filmmaterial gibt, sollte frau das ansprechen anstatt optisch zu faken.
Die erste Folge beginnt mit Nina Hagen und damit schon mit dem ersten Problem. Ist Nina Hagen Neue Deutsche Welle oder nicht? Der Begriff entstand ja erst später und die Situation war 1978 eine andere, denn in dem Jahr begann sich Punk in Westdeutschland erst im Untergrund (die damaligen „wahren“ Punks lehnten diese Versuche der Musikindustrie namens Straßenjungs, The Pack und Big Balls And The Great White Idiot vehement ab) zu entwickeln. Was an dieser Stelle auch komplett unter den Tisch fällt, war der damalige Zustand der westdeutschen Musikszene. Es ist zu einfach die NDW als Reaktion auf die damalige Schlagerszene zu interpretieren – und eigentlich ist es falsch. Als Alternative zum Schlager wurde die NDW vom Publikum erst später angenommen, aber die Entwicklung ist eine andere. Punk als (Teil-)Wurzel der NDW war eine Reaktion auf die westdeutsche Rockszene Ende der 1970er Jahre, die dominiert wurde von der Imitation anglo-amerikanischer Rockmusik, daneben Folk- und Jazzrock, ausufernder Elektronik und (un-)politischen Liedermachern. In diese Szene brach Nina Hagen mit ihrer Stimme und ihrem Auftreten wie eine Urgewalt hinein, begleitet von professionellen Rockmusikern mit Spuren von Punk. Das war eine neue frische Farbe, aber das war 1979 schon wieder vorbei, als Hagen mit den späteren Spliff-Musikern brach und ihre Karriere im Ausland fortsetzte. Viele Frauen bezogen sich auf Nina Hagen als Rollenmodell, aber musikalisch knüpften sie keineswegs an Ninas Musik an. Tatsächlich hatte Nina auch nie einen Nummer-1-Hit in Deutschland. Was Punk in Westdeutschland auslöste, war nicht eine bloße Übernahme der englischen und nordamerikanischen Rollenmodelle, sondern der Versuch völlig neue und eigenständige musikalische Wege zu begehen, durchaus gepaart mit Dilettantismus und neuen Technologien, die kein langes Erlernen von Instrumenten erforderten (es wäre interessant an dieser Stelle Parallelen zu den frühen „Krautrock“-Bands aufzuzeigen). Diese Kreativität jenseits der von Ramones und Sex Pistols präsentierten musikalischen Formeln (die übrigens auch in England und den USA schnell überwunden wurden) lies sich nicht recht unter den Begriff "Punk" als Synonym für "schnelle Rockmusik ohne Orgeln, Gitarren- und Schlagzeugsolos" fassen, was zu dem Begriff der "Neuen (deutschen) Welle" führte. Alfred Hilsberg äußert hier deutlich seine Probleme mit dem Begriff und ich gehe davon aus, dass es ihm insbesondere um das Wort "deutsch" in NDW geht, was ja nicht nur die verwendete Sprache beschreiben kann. Das wird leider in der Dokumentation an keiner Stelle problematisiert (auch wenn zugegeben "nationale" Ideen sehr selten in der NDW artikuliert wurden).
Es wäre an dieser Stelle möglich gewesen zu definieren, was eigentlich der Kern der NDW ist, die typischen musikalischen und textlichen Charakteristika, etwas das z.B. Barbara Hornberger (auch sie jemand der nicht mit Punk, sondern mit NDW sozialisiert wurde) in ihrem Buch "Geschichte wird gemacht" versucht hat (und dann zu dem Schluss kommt, dass Nena eben keine NDW ist – einverstanden). Leider verzichten die Macherinnen darauf und werfen alles, was Anfang der 1980er Jahre in den Charts hochkam, in einen Topf. Dabei wird deutlich, dass viele der erfolgreichen Künstler*innen aus ganz anderen Ecken kamen, wie z.B. Joachim Witt, der vorher mit Düsenberg eher amerikanischen Yachtrock gemacht hat oder die Spider Murphy Gang, die als klassische Rock’n’Roll-Coverband angefangen haben. Weitere Beispiele für Musiker*innen mit anderem musikalischen Hintergrund sind Trio, Geier Sturzflug, Spliff (die ehemalige Nina Hagen Band), Ideal – und an einer Stelle hört man sogar Piefke und Paffke, die NDW-Satire der hannoveraner Musik-Kabarettisten Arbeitstitel Knochen. Diese Musiker*innen waren eben nicht punk-sozialisiert, sondern griffen die im Untergrund entwickelten neuen Musikfarben auf und integrierten sie mehr (Witt) oder weniger (Spider Murphy) in ihr eigenes Musikschaffen. Andere wie Nena produzierten von Anfang an Poprock, der nur durch Image und deutschen Gesang der eigentlichen NDW ähnelte. Einzig die Deutsch Amerikanische Freundschaft hatte echte Untergrund-Wurzeln, auch wenn Robert Görl Musikschulen in Augsburg und Graz besucht hatte. Echte Neue Welle-Eigengewächse wie Einstürzende Neubauten, Andreas Dorau und Abwärts finden hier eher am Rande Erwähnung.
Und plötzlich taucht in der Dokumentation Namenlos und deren Sängerin auf – und mensch fragt sich, wieso kommt hier plötzlich diese nur Punkarchäolog*innen bekannte, von der Stasi zerschlagene Kapelle zu Wort, wo doch in der ganzen Zeit vorher Punk und sein Verhältnis zur NDW nie thematisiert wurde? Ist denn die NDW nicht eigentlich ein rein westdeutsches Phänomen? Richtig ist, dass die Jugend hinter dem antifaschistischen Schutzwall immer ein Ohr Richtung Westen hatte und die SED, um die Jugend im Zaum halten zu können, das mit Zähneknirschen akzeptierte, indem sie den Musiker*innen gewisse Freiräume lies, die z.B. eine Band wie Pankow durchaus zu nutzen wusste. Aber auch hier waren es Musiker*innen, die eine ganz andere musikalische Sozialisation hatten (Jürgen Ehle – übrigens Gitarrist und nicht Bassist der Band, wie in der Doku behauptet – ist ganz klar von Keith Richards inspiriert) und eben Stilelemente der NDW aufgegriffen haben zur Ausschmückung ihrer Musik (ganz schlimm die Puhdys). Die eigentliche "Neue Welle" der DDR waren später die "Anderen Bands", wo es dann erstaunliche Parallelentwicklungen gab (z.B. AG Geige im Vergleich zu Der Plan).
Was auch fehlt ist eine tatsächliche Erklärung, warum die NDW abgestürzt ist. Hier hätte eine Bildergalerie von den Hunderten damals auf den Markt geworfenen Produkten einiges erklären können. Auch ein Hinweis auf das, was danach kam (Westernhagen, Grönemeyer, BAP, aber auch Ärzte, Tote Hosen und Hip Hop) hätte etwas über den veränderten Geschmack des Publikums aussagen können anstatt der Hinweise auf Nostalgie-Tourneen der damaligen Helden (einzig Joachim Witt hat nicht an dem Genre festgehalten, was ihn ehrt). Diese Nostalgie betrifft ja nicht nur die NDW und wäre ein eigenes Thema für sich. Und eigentlich hat das auch etwas mit den verschiedenen Generationen in der Jugend zu tun.
Insgesamt eine bunte Reise durch die Zeit mit einigem Schauwert und netten Anekdoten, aber keine wirkliche Erklärung des Phänomens NDW, noch nicht einmal für Laien.
ahoi! brotbeutel.
AntwortenLöschenhab das auch gesehen, und fand "das Phänomen für - Laien",
aber noch einigermassen erträglich gemacht.
Auf jeden Fall besser als, Peter Illmann erklärt die NDW in 45 Minuten.
Ich frag mich immer ob "Illman" ein Künstlername ist ???
DüDüDüDüDü - Kränkmänn...
Ejal, klar hat manches gefehlt, die Kassettentäter,
und wo warn die Buttocks, die wahren Erfinder des Hardcore Punk ?
Aber wat willste,´ne 10 Stunden Doku ?
Mach ett Broti...
Ingesamt gesehen, war das aber ein wunderbares Lehrstück, wie sich die Plattenindustrie
alles unter den Nagel reisst, es aussaugt und wegschmeisst, wenn die Rendite
nicht mehr stimmt.
In diesem Sinne, Punk+Liebe
Stefan Tatendurst
http://www.tatendurst.org/
https://jehovatapperwer.bandcamp.com/album/preachin-the-punk