Der folgende Text liegt seit gut einem Jahr in verschiedenen Fassungen auf meinem Desktop und muss endlich raus, auch wenn er möglicherweise nicht mehr ganz aktuell ist...
Bis zum 17.5.2019 war Andy Partridge (ehemals Sänger, Gitarrist und Hauptsongschreiber der englischen Band XTC) auf Twitter als @xtcfans vertreten. Neben Tweets zu seiner musikalischen Vergangenheit, seinen aktuellen Aktivitäten und Videos von Lieblingssongs gab es auch Tweets zur Politik, die mich nicht sonderlich aufregten, andere Leser*innen aber schon, von wegen „wir mögen deine Musik, wollen aber nicht mit deinen politischen Ansichten belästigt werden“. Irgendwann teilte er mit, dass er auf den Kommentarseiten britischer Zeitungen gesperrt worden sei, wobei unklar blieb, was jeweils die Gründe waren. Offenbar scheint er dort mit seiner Meinung nicht zurückhaltend gewesen zu sein.
Es gibt einen Text von Rob Shapiro, der die kurze Vorgeschichte der Kontolöschung beschreibt. Partridge reagierte mit „Zwinker“ auf einen Tweet, der sich antisemitisch lesen lies. Damit konfrontiert schlug Partridge Shapiro vor, wenn er Angst wegen seines Namens um seine Kinder habe, doch einfach vom Judentum zum Atheismus zu wechseln – ein selten dämlicher Vorschlag, hatten doch die Nazis alle Menschen mit jüdischen Vorfahren in die Gaskammern geschickt, auch wenn sie Christen oder Atheisten waren. Nachdem jemand anderes twitterte, er warte auf die Supergroup von Partridge mit Roger Waters, eskalierte der Streit. Der Vorwurf, Partridge sei ein Antisemit führte zu einem Shitstorm, dem Partridge erst mit zahlreichen Sperrungen Herr werden wollte (siehe auch hier). Dann aber löschte er das Konto, angeblich um seine Gesundheit zu bewahren. Eine inhaltliche Stellungnahme, Richtigstellung oder Entschuldigung gibt es bisher nicht von Partridge.
Ist das alles nur ein großes Missverständnis? Man kann seine Zweifel haben. Hier einige seiner Tweets:
I REALLY admire Roger Waters and his stance on many things. What’s wrong, did he criticise your little religion? Perhaps your apartheid state wasn’t to his taste? / Ich bewundere Roger Waters und seine Haltung zu vielen Dingen WIRKLICH. Was ist los, hat er deine kleine Religion kritisiert? Vielleicht war dein Apartheidstaat nicht nach seinem Geschmack? (@xtcfans 15-05-2019 17:02)
Israel als Apartheidstaat zu bezeichnen ist falsch und typische anti-israelische Propaganda (die sich oft mit Antisemitismus überschneidet). Sitzen nicht arabische Abgeordnete in der Kneset, haben nicht israelische Staatsbürger arabischer Abstammung die gleichen Rechte wie alle anderen? Sicher kann man über das gesellschaftliche Klima und die Politik der aktuellen israelischen Regierung vortrefflich streiten, aber diese beiden rechtlichen Fakten widerlegen die Behauptung einer Apartheid nach südafrikanischer Art. Dass Partridge Roger Waters wegen irgendwas bewundert ist erst mal schwer einzuschätzen, es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Waters wegen seiner Unterstützung für BDS bei zahlreichen Deutschen als Antisemit gilt. Dass Partridge jüdische Religion und israelischen Staat gleichsetzt ist genauso doof wie die Taliban als typische Moslems anzusehen - und zudem eine typisch antisemitische Haltung.
The holocaust is not holy writ, It isn’t a religion, it can be historically revised. Auschwitz themselves did that. Read the plague./ Der Holocaust ist keine heilige Schrift, er ist keine Religion, er kann historisch revidiert werden. Auschwitz selbst hat das getan. Lies die Pest. (@xtcfans 15-05-2019 22:03)
Ja, der Holocaust ist keine heilige Schrift oder eine Religion, er ist ein historisches Fakt, das nicht geleugnet werden kann, da die Belege zahlreich sind und alle Gegenbeweise als falsch entlarvt wurden. Der Folgesatz „er (der Holocaust) kann historisch revidiert/widerlegt werden“ ist extrem missverständlich. Meint Partidge, dass anders als religiöse Überzeugungen wissenschaftliche Theorie – und historische Forschung ist eine Wissenschaft – falsifiziert werden kann? Theoretisch wäre das auch für den Holocaust möglich, was aber bisher noch niemanden gelungen ist, weshalb der Holocaust als historisches Fakt anzusehen ist. Oder meint Partidge tatsächlich, dass es praktisch möglich ist, den Holocaust zu widerlegen? Seine Formulierung lässt auf jeden Fall diese Interpretation zu – wenn man den nächsten Absatz ignoriert. Dazwischen steht aber noch der unsägliche Satz „Auschwitz selbst hat das getan“. Was hat Auschwitz getan? Sich selbst widerlegt? Wirklich? Oder meint er, dass die historische Forschung sich mit den „Argumenten“ der Holocaust-Leugner auseinandergesetzt hat, so wie das in der Wissenschaft bei widersprüchlichen Theorien üblich sein sollte? Nun, seit dem Prozess von David Irving gegen Deborah Lipstadt dürfte das Thema der Holocaust-Leugung eigentlich erledigt sein. Den Satz „Lies die Pest“ verstehe ich nicht. Wird hier auf den gleichnamigen Roman von Albert Camus angespielt? Wo ist da der Zusammenhang mit dem Holocaust?
If you want a little fact, more Roma were killed per head of population, that any other category. Facts make me anti Semitic do they?/ Wenn Sie eine kleine Tatsache wollen, wurden mehr Roma pro Kopf der Bevölkerung getötet, als in jeder anderen Kategorie. Tatsachen machen mich antisemitisch, oder? (@xtcfans 15-05-2019 22:03)
Ob tatsächlich anteilig an ihrer Bevölkerung in Europa mehr Sinti und Roma als Juden durch den Nationalsozialismus ermordet wurden oder nicht weiß ich nicht, eine kurze Recherche im Internet fördert sehr unterschiedliche Zahlen zu Tage, aber jedenfalls bestreitet Partidge nicht, dass es jüdische Opfer durch die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gegeben hat. „Kategorie“ ist allerdings ein unsägliches Wort für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, das ist eigentlich die Sprache der Herrenrasse.
Allerdings, was will A.P. mit der „Information“ Sinti und Roma habe es viel schlimmer getroffen bezogen auf die Zahl ihrer Opfer in Relation zur Größe ihrer Bevölkerungsgruppe als die Juden aussagen? Dass der Holocaust gar nicht so schlimm gewesen sei? Das kann schon als antisemitisch weil den Holocaust relativierend verstanden werden. Im Übrigen, wer spricht schon über die Millionen russischer Soldaten, die in deutscher Kriegsgefangenschaft verhungert sind? Im Vergleich dazu sind die englischen Opfer der deutschen Bomben bla bla bla und in Dünkirchen seid ihr doch auch noch alle über den Kanal entkommen, oder? Einige Monate später hat sich Roger Hallam von Extinction Rebellion in Deutschland unmöglich gemacht, weil er den Holocaust nur als weiteren Scheiß der Weltgeschichte und fast normales Ereignis bezeichnet hat (dass Partidge Sympathie für Extinction Rebellion haben könnte kann ich mir gut vorstellen), was darauf schließen lässt, dass die Einmaligkeit des Holocaust, der Idee der „Vernichtung der jüdischen Rasse“, offenbar anders als in Israel und in Deutschland im Vereinigten Königreich nicht so im öffentlichen Bewußtsein verankert ist. Hallam hat sich immerhin für seine Äußerungen entschuldigt (ob er das gemacht hätte, wenn die Äußerungen nicht gerade in Deutschland gefallen wären, steht auf einem anderen Blatt).
Halten wir fest: Partidge leugnet offenbar nicht, dass Juden unter der Herrschaft der Nazis ermordet wurden. Und Partidge hat ein grundsätzliches Problem mit Religionen, wie auch sein Song „Dear God“ zeigt, für den er immer noch von christlichen Fanatikern attackiert wird. Doch die Frage des Antisemitismus ist keine Frage der falschen oder richtigen Religion. Und vom Verdacht des Antisemitismus wird auch nicht dadurch frei, indem man angibt jüdische Freunde zu haben, wie es Partidge an anderer Stelle gemacht hat. Antisemitismus ist auch Rassismus, denn auch Juden, die zum Christentum konvertiert waren, wurden nach Auschwitz verfrachtet. Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus, es sei denn, die kritisierten Handlungen werden anderen Staaten gegenüber akzeptiert. Dann ist die Kritik offensichtlich nur ein Deckmantel für Antisemitismus.
Ist Andy Partridge ein Antisemit? Ich weiß es nicht, aber auf jedenfalls ist er dumm – und das ist das überraschende. Als Musiker, Sänger und Songwriter sollte er sich mit menschlicher Kommunikation auskennen und den Unterschied zwischen realer Welt und Internet verstehen. What happens in the pub stays in the pub, but what happens on the internet the whole world can notice. Es ist das eine sich mit jüdischen Freunden(1) im Pub mit Wortspielen über Beatles-Songs zu beömmeln, weil das schon am Nebentisch nicht mehr wahrgenommen wird, aber das im Internet auszubreiten kann zu Missverständnissen führen. Alle Kommunikation im Internet, insbesondere bei Twitter und Co., ist bruchstückhaft, weil es dort nur die Worte gibt, es fehlen der Kontext der Stimme, des Gesichtsausdrucks, die soziale Situation, in der etwas gesagt wird, der konkrete Adressat und die Erwartung, wie der Sprecher glaubt, dass es der Adressat versteht. Der bloße Text transportiert nicht, ob etwas ernst gemeint ist oder nicht, und weil die ganze Welt es lesen kann und jeder seine eigenen Erfahrungen hat ist es unvermeidlich dass Worte falsch verstanden werden. Insofern hast sich Partridge den Vorwurf Antisemit zu sein, egal ob er es ist oder nicht, wegen seines unbedachten Verhaltens selbst zuzuschreiben. Und das ist, was mich am meisten erschüttert, dass er trotz seiner offensichtlichen Intelligenz die Konsequenzen seines Handelns nicht erkannt hat – und dass er sich beleidigt zurückgezogen hat anstatt seine Fehler einzusehen (und der Artikel von Mark Caro (siehe oben) zeigt, dass er dazu zweifellos fähig gewesen wäre).
Ich kann seine Musik nicht mehr unvoreingenommen genießen.
PS: Erinnert sich jemand noch an den Auftritt von XTC im deutschen Fernsehen zur Veröffentlichung von „Mayor of Simpleton“, wo er von der Moderatorin darauf angesprochen wurde, warum in dem Promovideo „The Road to Oranges and Lemons“ Charlie Chaplin in seiner Rolle als Der große Diktator als Symbolbild für Deutschland verwendet wurde und sich Andy mit die Plattenfirma ist Schuld – dasVideo sieht aus als ob es XTC selbst gedreht haben - herauszureden versuchte?
Andrea Wilke: “Andy, why did you take in your latest video as a symbol for Germany a picture of Charlie Chaplin as Hitler? What that what comes to your mind first when you think of Germany?”
Andy Partridge: “I think you’ve seen the wrong video.”
AW: “I think I’ve didn’t, we’ve seen it right now there. It’s not true?”
AP: “No, it’s no true at all, you must show me that video. Charlie Chaplin… Neither Charlie Chaplin nor Adolf Hitler are ever been in any video of us.” (Dave Gregory talks to AP)
AW: “I’m talking about the long one, 15 minutes long.”
AP: “Oh, the.. yes… the record company sent a postcard representing… the only postcard they could find that afternoon.”
AW: “What did you think, you… especially in England the people think we are still Nazis in Germany?”
AP: “Ah, this is a loaded question because I know what the show is about now. Ah, now you do have a hell of a past to líve down but you look like you’re doing a great job of doing that so carry on, eek eek, live it up.”
AW: “You’re making fun of me okay okay.”
(1) Ein Bekannter von mir, der intensive Kontakte in die israelische Musikszene hat erzählte mir, dass diese problemlos die härtesten Judenwitze erzählen würden. Aber die dürfen das, wir als Deutsche mit unserer Vergangenheit können das nicht, weil gerade der Kontext um die Person, die den Witz erzählt, ein bestimmte Interpretation nahe legt, und der können wir als Deutsche nicht entkommen, niemals. Wie auch Eliyah Havemann auf taz.de kürzlich schrieb: „Hier in Israel gibt es die geschmacklosesten Auschwitz-Ofen-Witze, die man sich vorstellen kann. Wenn ein Nachkomme eines Opfers einen erzählt, kann er befreiend wirken. Wenn aber ein Deutscher denselben Witz macht, dann zeige ich ihn womöglich wegen Volksverhetzung an.“
kaum zu glauben nach solchen richtungsweisenden Titeln für SUV-Fahrer/innen wie z.B. "Makin' Plans For Nigel"...
AntwortenLöschenps.: die XTC hab ich ca. '77/'78 im Düsseldorfer "Ratinger Hof" erlebt, unvergesslich!